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Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse

Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse

Titel: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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wobei ich keine Ahnung hatte, wie er mir verloren gegangen war. »Mein Mädchen«, flüsterte sie.
    Ohne dass ich es mir erklären konnte, begann ich zu weinen. Es war kein überfordertes Schluchzen und auch kein verzweifeltes Dammbrechen, sondern ein erleichternder Akt, der von Trauer und Hoffnung zugleich geprägt war. Ich hatte vieles verloren, aber ich würde dadurch auch etwas gewinnen, da war ich mir sicher. Als Reza sich auf die Bettkante setzte und mich in die Arme nahm, wies ich sie nicht zurück. Ich kuschelte mich an ihre Brust, ließ zu, dass sie meinen Rücken entlang über mein langes Haar strich und mir beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Vielleicht standen Bettzeug und Wandfarbe nicht wirklich für ein Zuhause, aber diese behutsame Umarmung auf jeden Fall.
    ∞∞
    Keine Ahnung, ob nur Stunden oder gar Tage verstrichen waren, seit ich in dem fremden Bett erwacht war. Mir war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Ich blieb in dem Zimmer mit Blick auf den Garten. Körperlich fehlte mir zwar nichts, sodass ich mich ohne Weiteres mit der Welt außerhalb meiner vier Wände hätte vertraut machen können, doch die Begrenztheit gefiel mir. Ich brauchte keine Anreize von außen, mir reichte es aus, wenn Reza bei mir saß und von ihrem Garten erzählte oder ich einfach nur auf dem Rücken lag und an die Decke starrte.
    Irgendwann erwischte ich einen Jungen im Badezimmer, der sich als Rufus vorstellte und mich prompt darauf hinwies, dass ich mir mit meinen ellenlangen Haaren locker den Hintern abwischen könnte. Dann knuffte er mich gegen den Oberarm und reagierte erstaunlicherweise mit einem zufriedenen Grunzen, als ich sofort zurückboxte. Auch ich verspürte nach der Rauferei eine gewisse Befriedigung, als hätte ich die Regeln eines alten Spiels nicht vergessen.
    »Manche Dinge ändern sich nie, was?« Rufus massierte seinen Bizeps, obwohl ich nicht sonderlich stark geboxt hatte. »Du weißt vielleicht nicht mehr, wie du heißt, aber eine alte Kratzbürste bist du trotzdem wie gehabt.«
    Vermutlich hatte noch nie zuvor jemand das Wort »Kratzbürste« mit so viel Zärtlichkeit ausgesprochen.
    Während ich ihm sicherheitshalber noch einen weiteren Boxhieb verpasste, dachte ich über meinen Namen nach. Mila … so hatte Samuel mich genannt. War das wirklich mein Name? Ich kannte ihn nicht, hatte aber nicht die geringste Lust, mit diesem grinsenden Kerl darüber zu sprechen, der mir irgendwie ähnlich sah – von seiner Lockenpracht einmal abgesehen. Stattdessen flachsten wir eine Weile sinnbefreit herum, was unendlich viel besser war, als über verlorene Namen zu philosophieren.
    Später trat anstelle von Reza ein älterer Mann mit tiefbraunen Augen in mein Zimmer, um mir eine Kleinigkeit zu essen zu bringen. Die Art, mit der er mich sorgsam musterte, brachte mich in Verlegenheit, und ich fragte mich, was er wohl in mir sah. Ein armseliges Wesen, das die Sphäre nach dem Verlust ihres Gefährten verdaut und wieder ausgespuckt hatte? Mein Gefährte … in Gegenwart dieses kräftigen und zugleich empfindsam wirkenden Mannes, der sich als »Daniel« vorstellte, mochte ich nicht an Nikolai denken. Überhaupt vermied ich die Erinnerung an ihn, nicht etwa weil sie mich verletzte, sondern weil sie mir vorkam, als würde sie nicht zu mir gehören. Das, was ich an Nikolais Seite empfunden hatte, war mit ihm gestorben.
    Mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend setzte ich mich samt dem Teller an den Schreibtisch, von dem ich sämtliche Notizzettel, Schulhefte und Mappen mit Zeichnungen geräumt hatte, ohne sie mir genauer anzusehen. Was auch immer dort festgehalten worden war, ging mich nichts an. Noch nicht zumindest. Ich wartete, bis die Katze auf meinen Schoß gesprungen war, dann durchteilte ich das Omelette mit der Gabel, traute mich jedoch nicht, auch nur einen Happen zu probieren.
    »Möchtest du lieber etwas anderes essen?«, fragte Daniel.
    Erneut grübelte ich darüber nach, was er in mir sah. Nein, nicht nur, was er in mir sah, sondern wer ich für ihn war, was ich ihm bedeutete, weshalb er sich um mich kümmerte, ohne irgendetwas von mir zu erwarten. Auch wenn mich die Vorstellung eigenartig anmutete, akzeptierte ich, dass dieser Mann ein Teil meiner Vergangenheit war – eine Vergangenheit, die sich mir verwehrte, als hätte ich das Recht auf sie verloren. Bislang hatte ich mir eingeredet, dass es mich nicht kümmerte, was früher gewesen war, oder dass die Gegenwart nur eine große Illusion war,

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