Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
stecktest, die gerade vernichtet wurde? Genau das wirst du gleich erneut erleben!«, höhnte ich, doch meine Stimme verfing sich in den schattenhaften Schlieren der Körperlosen. Immer dichter wurde ihr Treiben, immer zäher ihr Widerstand. Als ich an mir hinabblickte, sah ich nicht einmal mehr meine Füße, als würde ich mich auflösen und selbst zu einer dieser schattenhaften Kreaturen werden. »Das wird nicht passieren«, teilte ich ihnen mit und öffnete, ohne jede Schutzvorkehrung, meine innere Quelle, der ich mich zuletzt nur mit großer Vorsicht genähert hatte, aus Furcht, sie nicht beherrschen zu können. Jetzt aber ließ ich die rohe, unkontrollierte Energie aus mir herausfließen, und bevor sie mich zerriss, fand sie in den Körperlosen ein aufnahmebereites Medium. Sie waren wie die Höhlen in den Klippen, in die die Flut unaufhaltsam strömte. Ich spürte ihr entsetztes Zurückweichen, doch es war zu spät. Das gleißende Licht meiner Quelle löschte sie aus, als wären sie nichts als Schatten. Die Wände des Gangs begannen zusammenzuzurren, wie ein Seil, das man dreht, während ich atemlos dastand und die Quelle sanft verschloss, so wie Asami es mir gezeigt hatte. Traumbilder und Silberstaub begannen auseinanderzufallen, die ersten Risse der Pforte zeigten sich, und was außerhalb von ihnen lag, war mir wohlvertraut: Schwarz und Weiß, im Kampf vereint. Noch nicht, dachte ich, jetzt noch nicht, dann lief ich los, denn für meine Schwingen war kaum noch ausreichend Platz.
»Nikolai!«
Ein Beben durchfuhr seinen Rücken, von dem die Schwinge, an der ich ihn hinter mir hergezogen hatte, in einem ungewöhnlichen Winkel herunterhing. Offenbar hatte ich sie gebrochen. Langsam drehte er sich um, die Hand gegen den Schnitt in seinem Bauch gepresst. Seine einst goldfarbene Haut war mit einer Eisschicht bedeckt, wo sie noch nicht schwarz angelaufen war. Dafür hatten seine Augen ihre silberne Farbe angenommen, obwohl sie für uns Schattenschwingen in der Sphäre grau aussahen. Allerdings glänzten sie nicht mehr wie polierte Münzen, sondern waren stumpf.
»Steck dieses verfluchte Schwert weg oder hast du durch Kastors Tod gar nichts gelernt? Du kannst mich nicht in meiner eigenen Pforte richten, es wird dich umbringen.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
Ich langte nach Nikolai, der mit voller Wucht meinen Arm wegschlug, ungeachtet der Tatsache, dass der Schmerz, den die Klinge meines Katanas dabei verursachte, ihm fast das Bewusstsein rauben musste. Er taumelte und ich packte ihn an der Schulter, bevor er zusammenbrach und in den einreißenden Rändern seiner eigenen Pforte verloren ging.
»Wenn du mich tötest, dann tötest du auch Mila. Oder vertraust du etwa auf den Ersten Wächter? Asami wird sie nicht halten in dem Sturm, in den mein Tod sie reißen wird. Er wird es nicht tun, weil er dich liebt, weil er dich für sich allein will.«
»Das ist dein großer Fehler, Nikolai: Du siehst in uns allen nur ein schwaches Abbild deiner selbst. Gerade weil Asami mich liebt, wird er Mila um jeden Preis halten. Du bist unbelehrbar, nicht wahr?«
Wie zum Beweis wanderten Nikolais Finger zu dem Pfeil, den Mila ihm eingeschnitten hatte.
Ich hob das Katana, hörte, wie es seinen Namen und damit seine Bestimmung sang, und ließ es in einem Bogen niedergehen, der Nikolais Kehle traf. Als die Klinge ins Freie trat, erlosch ihr rötlicher Schimmer unter einer Schicht aus Silber. Ihr Werk war vollbracht. Ich beobachtete, wie Nikolai seine Augenlider schloss, während sein Kopf nach hinten sank, spürte den Ruck, der durch die Pforte ging, als sie erstarrte, und wie das Silber um mich herum zu schmelzen begann.
Ich musste mich in Bewegung setzen, musste schleunigst fliehen, doch ich konnte mich nicht rühren. Es gab kein Entkommen, ich war ein Gefangener der in Vernichtung begriffenen Traumpforte. Hinter den Spiegelmauern des Turms erstreckte sich nicht länger der Himmel der Sphäre, sondern jene Welt, die sich uns Schattenschwingen in den Träumen offenbarte: Schwarz und Weiß, im Kampf vereint. Sie griff mit aller Macht nach mir, schob die Pforte beiseite, streckte ihre Hand nach mir aus, um mich zu zerdrücken, als ertrage sie das Grau meiner Schwingen nicht, und wollte es in Schwarz oder Weiß verwandeln. Doch es gelang ihr nicht, mich zu erreichen. Eine andere Macht war unendlich stärker.
Ich fliege. Vollkommen frei von allen Zwängen, sämtlichen Regeln enthoben, fliege ich durch den weiten Himmel, ertönte erneut
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