Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
belegte. Es half jedoch nichts, ich fühlte mich fehl am Platz.
»Kommt dir irgendetwas um dich herum vertraut vor? Nein? Mach dir keine Sorgen, Sam sagt, dass es eine Weile dauern wird, bis deine Erinnerung zurückkehrt.«
»Ich habe meine Erinnerung nicht verloren. Wie soll man denn etwas verlieren, wenn man aufgehört hat zu existieren?«, behauptete ich trotzig.
»Schatz, wenn man nicht existiert, dann zerknüllt man auch nicht die Bettdecke zwischen seinen Fäusten und gibt im Schlaf seltsame, murrende Geräusche von sich.«
»Warum bin ich hier?«
Die Schultern der Frau sanken hinab, als hätte ich ihr mit meiner Frage Schmerz zugefügt. Wenn dem so war, änderte es jedoch nichts an der Milde, mit der sie mich betrachtete. »Das hier ist dein Zuhause«, erklärte sie mir ruhig.
»Mein Zuhause wurde zerstört, es ist zerbrochen, es ist ein einziger Scherbenhaufen, das weiß ich ganz genau.«
Obwohl ich mit festem Ton sprach, kam es mir seltsam vor, von der Festung aus Spiegelglas als von meinem Zuhause zu reden. Ein Zuhause sollte eigentlich etwas anderes sein, zumindest drängte sich mir diese Vorstellung auf. Nachdenklich strich ich das zerknitterte Bettzeug glatt, von dem ein Geruch nach Baumwolle und einem bestimmten Waschmittel aufstieg. Dieser Geruch, der konnte für Zuhause stehen. Oder der offen stehende Kleiderschrank, vor dem ein Korb mit gefalteten Sachen stand, die jemand wohl einzuräumen vorhatte. Sogar das Pochen des Heizkörpers erinnerte mehr an ein Zuhause als die Glaswände, hinter denen Wolken vorbeigezogen waren. Mein Blick wanderte weiter umher und blieb an einem roten Gewand hängen, das über einer Stuhllehne hing.
»Was macht dieses Kleid denn hier?«, fragte ich die Frau.
»Sam meinte, es gehört dir. Wenn es dich beunruhigt, kann ich es gern wegtun.«
Ich zögerte. »Mit Sam meinst du Samuel. Er hat den Kampf gegen Nikolai also überlebt?«
»Ja, das hat er, allerdings hat es wohl auf des Messers Schneide gestanden. Ich verstehe noch nicht allzu viel von diesen Schattenschwingen-Angelegenheiten, obwohl ich mich ernsthaft bemühe.« Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Jedenfalls hat Sam erzählt, dass er sich hat entscheiden müssen zwischen einem traumhaften Tod oder einem Flug mit dir ins Blaue. Er hat sich für den Flug entschieden.«
»Denkst du, er hat die richtige Entscheidung getroffen?«
Als die Frau nickte, begann ich auf meiner Unterlippe herumzuknabbern. Vermutlich sollte ich zumindest Bitterkeit gegenüber diesem Samuel empfinden, wenn schon kein Hass in mir aufkommen wollte. Stattdessen überfiel mich eine grenzenlose Erleichterung. Samuel war gegen Nikolai gezogen und hatte bestanden.
»Darf ich fragen, wer du bist?«, fragte ich, verlegen über meine Ahnungslosigkeit.
Um die Augen der Frau zuckte es und für einen Moment dachte ich, Tränen würden sich darin sammeln, aber dann lächelte sie wieder. »Ich bin Reza und ich werde für dich da sein, solange du mich brauchst. Mehr musst du vorerst nicht wissen, deine Erinnerung wird schon von allein zurückkehren. Zumindest hoffe ich das. Soll ich das Kleid in den Schrank legen? Du musst dich jetzt noch nicht mit ihm auseinandersetzen, lass dir Zeit, nichts drängt.«
Zuerst wollte ich erwidern, dass es unmöglich war, sich einfach treiben zu lassen, wenn im Inneren gähnende Leere herrschte, von der man nicht wusste, wie man sie jemals wieder füllen sollte. Aber dann gestand ich mir ein, dass es genau das war, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Ich wollte sein wie die Katze am Fußende des Bettes und gelassen in den Tag gehen. In mir war nicht viel, aber was dort war, gehörte mir und es sollte in Ruhe gedeihen. Dazu war es nicht notwendig zu begreifen, wo ich war und was sich um mich herum abspielte, sondern dass ich da war, meine eigenen Gedanken und Gefühle wahrnahm, ohne von der viel stärkeren Präsenz eines anderen übertönt zu werden. Meine Vergangenheit, wie auch immer sie aussehen mochte, bevor Nikolai mich zu seinem Leben gemacht hatte, konnte warten.
»Das Kleid kann ruhig liegen bleiben, es ist alles gut, so wie es ist.«
Rezas Lächeln zitterte, und ich erahnte die Anstrengung, die sie ihre äußere Gelassenheit kostete. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich deine Hand halte?«
Ich schüttelte bereits den Kopf, als ich es mir anders überlegte und ihr meine Hand reichte. Sie umfasste sie sanft und streichelte über die Stelle, wo einst ein Ringfinger gewesen sein mochte,
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