Schattenseelen Roman
nicht weg, aber ließ ihn auch nicht zu ihr.
Adrián beugte sich über Evelyn und lehnte seine Stirn an die ihre. Er würde mit ihr reden, bis zum Morgengrauen und darüber hinaus, bis eine neue Nacht anbräche, und danach noch eine.
»Komm zurück«, flüsterte er und vergrub die Finger in ihrem Haar. »Ich brauche dich. Im Pesthof habe ich nur überlebt, weil ich an dich gedacht habe. Ich wollte dich noch einmal sehen, es aus deinem Mund hören, dass ich dir nichts wert bin. Du bist zu mir zurückgekommen, um mich zu retten. Bitte, komm auch jetzt zu mir zurück. Und rette mich noch einmal.«
Du bist die Schwarze …
Die Schattenstimmen schwirrten um Evelyn herum und zusammen mit ihnen die verlorenen Seelen, die
zu ihren Sklaven geworden waren. Die Herrscherin des Universums, die Göttin, die nichts spüren durfte und fern jeglicher menschlicher Gefühle war, litt, als wäre sie eine von diesen Schattenseelen. Wie war das möglich? Wie konnte eine perfide Kreuzung zwischen einem Metamorph und einem Nachzehrer so eine Wirkung erzielen? Es war eigentlich nicht möglich, das wusste Evelyn. Was sie nicht wusste, war, wann, wie und warum sie zu einer Mächtigen geworden war.
Zu einer Mächtigen mit einer Seele.
Dann vernahm Evelyn etwas. Einen Ruf, der nicht hierhergehörte. Einen Ruf, der alle Grenzen überschritt - und der sie zurücklockte.
Bitte, komm auch jetzt zu mir zurück. Rette mich … Adrián. Es war das Band, das sie aneinander hielt. Ein dünner Faden, den sie auf einmal sehen konnte, ein Ende um ihre Seele gewunden, während das andere sich in der Finsternis verlor. Was würde wohl bleiben, wenn das Band zerriss?, strich es durch ihren Kopf. Sie schloss den Faden zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger ein und zerstörte ihn mit einem Ruck.
Sei frei, Adrián. Frei von mir.
Verlass mich nicht. Nicht so. Trotzdem drang der Ruf zu ihr durch, übertönte die Schattenstimmen und lockte sie fort. Er hatte sie gefunden. Ohne das Band. Aus dem tiefsten Inneren heraus. Es war ein Flehen, mehr noch, ein Gebet.
Evelyn öffnete die Augen, irritiert und verängstigt. Sie konnte sich an den Kampf im Zwinger erinnern, an die Dunkelheit, die sie ergriffen und ihr unglaubliche Macht verliehen hatte - danach kamen nur Schwärze und ein seltsamer Traum. Oder war das gar kein Traum? Konnte es möglich sein, dass sie zu den Mächtigen gehörte? Nein, auf keinen Fall. Hatte Hermann Herzhoff nicht erzählt, die Mächtigen wären pure Energien, Gottheiten, die sich die Körper der Sterblichen nahmen, um auf der Erde wandeln zu können?
Hermann … Evelyn dachte an die verzerrte Gestalt, die ihr aus dem Schattenstrom gegenübergetreten war. Sie hatte ihn getötet, genauso wie Kilian, um ihr Geheimnis zu schützen.
»Nein, nein, nein!«, beschwor sie sich, während die Bilder der Morde in ihrem Hirn aufflackerten und auf einem »Doch!« beharrten. Verzweiflung legte sich über sie. Warum war sie bloß aufgewacht? Sie durfte hier nicht sein. Sie durfte nicht leben. Nicht nach all dem, was sie verbrochen hatte.
»Scht.« Zärtlich fuhren die Finger über ihre Wangen, strichen ihr das Haar zur Seite. Über sich erkannte sie vage die Umrisse eines Gesichts.
»Adrián?«
Er küsste sie, und das war Antwort genug. Seine Lippen würde sie unter tausend anderen erkennen. Sie legte die Arme um seinen Nacken. Ein Gefühl, das sie nicht empfinden durfte, beschlich ihre Seele: Glück. Vollkommenes Glück.
Ach Adrián, dachte sie mit einem schmerzhaften Stich in der Brust. Würdest du mich auch dann lieben, wenn du wüsstest, was ich getan habe?
Was hast du denn getan?
Seine Gedanken in ihrem Kopf ließen sie zusammenzucken.
»Nichts«, murmelte sie rasch und erwiderte seinen Kuss, um ihn abzulenken.
»Ich dachte, du würdest nie mehr aufwachen.« Er schien nicht bemerkt zu haben, wie sie sich von ihm zurückzog. »Erschreck mich nie wieder so!«
Neben dem Bett bemerkte Evelyn den Käfig mit dem Kaninchen.
»Frido!«, hauchte sie und streckte die Hand aus, doch das Tier drückte sich in eine Ecke und zitterte. Frido hatte Angst vor ihr, wies sie ab. Nie mehr würde sie ihn auf den Schoß nehmen, ihn streicheln und mit ihm kuscheln können. Sie müsste ihn abgeben, damit er friedlich leben konnte. Würde sie auch Adrián irgendwann verlassen müssen, würde sie auch von ihm abgewiesen werden, wenn er die Wahrheit erfuhr? So weit durfte es nicht kommen. Das Geheimnis, für das Hermann und Kilian gestorben waren,
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