Schattenseelen Roman
legte ihm in ein Handtuch gewickelte Eiswürfel auf die Stirn. Mehrere Minuten lag er regungslos da und kämpfte mit dem Drang, wieder in die Bewusstlosigkeit einzutauchen, bloß um diesen Kopfschmerzen zu entkommen. Dann ging es ihm in der Tat etwas besser, und die Konturen der Welt gewannen an Schärfe. Er sah Maria und nahm die verzierten Bettpfosten und die Samtvorhänge des Himmelbettes wahr. Er befand sich anscheinend in ihrer Villa, aber wie war er hierhergekommen?
Adrián hob die Rechte, um das Handtuch mit den Eiswürfeln selbst zu halten, und ihm fiel alles wieder ein. Seine Gefangennahme und die Folter, der Kampf und die Flucht.
»Was …« Was ist mit Evelyn, wollte er fragen, doch er brachte nur ein Krächzen zustande.
»Conrad hat euch gefunden. Ehrlich gesagt wollten wir die Suche schon aufgeben. Es war aussichtslos, euch in der Kanalisation zu finden, ohne jeglichen Kontakt. Aber du kennst ja unser Oberhaupt. Manchmal ist er so ein Dickschädel. Zum Glück. Deine Hand sah richtig übel aus. Nachdem wir dir Lebensenergie eingeflößt haben, begann sie zu heilen, aber in solch einem zertrümmerten Zustand wäre das ein Desaster geworden. Wir mussten Alfred rufen, und er hat dich
sediert, damit die Heilung vorübergehend aussetzt. Er hat sein Bestes getan, um deine Hand zusammenzuflicken.«
Adrián bewegte die Finger. Sie rührten sich tatsächlich, also war die Hand im Gröbsten noch funktionsfähig. Doch die Faust zu ballen oder die Finger ganz auszustrecken gelang ihm nicht. Er nahm einen Eiswürfel und spürte keinerlei Kälte. Verdammt. Aber auch Alfred konnte keine Wunder vollbringen, obwohl er ein begnadeter Nachzehrer-Arzt war.
»Es tut mir leid«, sagte Maria, die seinen Frust bemerkt haben musste.
»Macht nichts«, ächzte er, »dann muss ich lernen, mit der Linken zu hantieren. Meine Geschäftspartner werden entzückt sein, sie konnten schon vorher meine Handschrift nicht entziffern. Wo ist Evelyn? Wie geht es ihr?«
Maria verdrehte die Augen. »Conrad hält die Totenwache an ihrem Bett. Als würde das etwas bringen.«
»Totenwache? Sie ist gestorben?« Adrián warf das Handtuch mit den Würfeln beiseite und ruckte hoch. Sogleich befielen ihn wieder die Kopfschmerzen, und er sank stöhnend in die Kissen zurück.
»Wir wissen nicht, ob sie gestorben ist oder nicht. Sie liegt da und reagiert auf nichts. Wir haben ihr Lebensenergie eingeflößt, doch es war, als würde diese Energie in einem Schwarzen Loch verschwinden.«
Diesmal richtete sich Adrián langsam auf und setzte sich auf die Bettkante.
»Nein, nein«, protestierte Maria und versuchte, ihn zurück ins Bett zu zwingen. »Du solltest noch etwas liegen bleiben.«
Mit sanftem Druck schob er ihre Arme beiseite. Auf wackeligen Beinen erhob er sich und griff nach dem Bettpfosten. Dann wagte er einen weiteren Schritt. Schwerfällig bewegte er sich vorwärts, wobei er sich an Möbeln und Wänden festhalten musste, um nicht zu stürzen.
Evelyn lag im Gästezimmer. Ihr Anblick versetzte ihm einen Stich. So leblos wirkte sie, so fern von dieser Welt. Neben ihr saß Conrad und hielt ihre Hand.
Als der Mann Adrián bemerkte, stand er auf und ging ohne ein Wort zur Tür. Er war bereits im Flur, als Adrián endlich seinen Blick von Evelyn löste und ein Danke herausbrachte. Conrad blieb stehen und nickte ihm stumm zu, machte aber keine Anstalten, das Schweigen zu brechen. Als er sich umdrehen wollte, hielt ihn Adrián zurück: »Wie geht es ihr?«
»Ohne Veränderungen. Wir sind mit unserem Latein am Ende.«
Adrián stolperte zum Bett und ließ sich auf den Stuhl daneben fallen. Sie sah leichenblass aus. So unwirklich. Wenn er mit dem Daumen über die dünne, fast durchsichtige Haut strich, sah er, wie die Schatten ihre Ornamente woben, um dann wie Rauchfäden einer ausgeblasenen Kerze zu verschwinden. Er erstickte das verräterische Wispern in sich, das ihm einreden
wollte, Evelyn sei tot. Nein, das war sie nicht. Sie war nur irgendwie … fort.
»Ich habe versucht, zu ihr durchzudringen«, sagte Conrad. »Vergebens. Ich schätze, wenn das jemand kann, dann sind Sie es.«
»Danke, dass Sie bei ihr waren, als ich es nicht konnte«, sagte er.
Conrad nickte und ging davon. Adrián schloss die Augen und drückte seine Stirn gegen Evelyns kalte Fingerknöchel. Er konzentrierte sich auf sie, rief nach ihr, suchte ihren Geist. Aber wo er auch zu ihr vordrang, erwartete ihn nur die Leere. Als verhöhne das Schicksal ihn: Es nahm sie ihm
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