Schattenseelen Roman
den
Tisch, und etwas Kaffee schwappte über den Rand. Die alte Frau war gestorben, weil die Lungenentzündung ihre Kräfte aufgezehrt hatte.
Sie sollte lieber nach vernünftigen Erklärungen suchen. Zumindest sobald sie in der Lage war, wieder logisch zu denken.
Evelyn fröstelte. Die Temperatur im Aufenthaltsraum schien rapide gesunken zu sein, obwohl draußen die Nacht der Sommerhitze Tribut zollte. Sie rieb sich über die Arme und schüttelte sich. Eine Neonröhre flackerte. Zuerst zaghaft, dann immer schneller. Das zuckende Licht tat weh in den Augen. Evelyn stand auf und schaltete die Beleuchtung aus. So war es besser. Nur die Laterne spendete von draußen etwas Licht.
Sie drehte sich um und fuhr zusammen. Direkt vor ihr stand eine junge Frau, etwa Mitte zwanzig. Das bronzefarbene Haar hüllte sie wie ein Umhang ein. Ein exotischer Duft kroch in Evelyns Nase: eine Mischung aus Waldboden und aromatischer Baumrinde mit einer Note von Moschus.
Die Erscheinung der Frau verschwand genauso plötzlich, wie sie entstanden war, obwohl Evelyn die Anwesenheit der Unbekannten noch fühlte. Ihr Herz begann zu hämmern. Was, zum Teufel, geschah hier? Am liebsten wäre sie weggelaufen, weit weg von all dem Irrsinn.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr, glaubte in einer Ecke Schwaden zu entdecken,
als ströme ein schwarzer Nebel durch eine unsichtbare Ritze herein. Sie rieb sich die Lider. Aber die Schwaden verschwanden nicht. Langsam krochen sie auf sie zu wie die Tentakeln eines Kraken aus Rauch.
Evelyn tastete nach dem Schalter und knipste das Licht wieder an.
Quatsch.
Da war nichts.
Die ganzen Vorfälle hatten ihr mehr zugesetzt, als sie es sich eingestehen wollte. Sie sank in einen Sessel und legte den Kopf in den Nacken. Doktor Lühne hatte Recht, sie sollte nach Hause gehen, wo sie sich einen Kaffee kochen konnte, der auch nach Kaffee schmeckte.
Das Licht flackerte wieder.
Um ihren Kopf lastete ein Druck, als quetsche jemand langsam ihren Schädel zusammen. Warum war es hier so kalt? Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Evelyn rieb darüber und erschrak. Schon wieder fasste sie eine Leiche an, nur war es diesmal sie, deren Haut eiskalt schien.
Das Licht erstarb, und die Dunkelheit verschlang den Raum. Evelyn starrte vor sich hin, während sich der Druck auf ihre Schläfen und die Stirn verstärkte. Da, in der Ecke - da bewegte sich etwas … Die Nebelschwaden!
Sie musste fort von hier, verschwinden, so schnell wie möglich. Doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ihr Körper fühlte sich schwach und willenlos
an, wie etwas Fremdes, in dem sie gefangengehalten wurde. In der Finsternis glaubte sie eine Silhouette zu erkennen. Die junge Frau von vorhin. Um den Hals trug sie ein armdickes Band aus grünem Leder, das sich zu bewegen schien.
Die Unbekannte starrte durch sie hindurch. Etwas an ihr kam Evelyn vertraut vor. Vielleicht die Art, wie sie den Kopf neigte, oder ihre Stupsnase und die Konturen ihres Mundes, der keinen Lippenstift brauchte. Der Halsschmuck glitt zu Boden, und auf einmal erkannte Evelyn die Schlange, die sich zu ihren Füßen schlängelte. Der schmale Körper schnellte einem Pfeil gleich nach vorne, und die Giftzähne schlugen in ihre Wade.
»Ist der Kaffee noch warm?«
Evelyn zuckte zusammen.
Das Licht ging an. Geblendet blinzelte sie und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, während vor ihren Augen ein Schwarm aus weißen Punkten tanzte. War sie eingenickt? Vermutlich.
Susanne flatterte zur Küchennische und betrachtete mit gerümpfter Nase die Glaskanne. »Das ist doch kein Kaffee, das ist eine Schande«, stellte sie nach ihrer Inspektion fest und wandte sich wieder an Evelyn. »Mensch, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Du Arme. Schrecklich, was mit Doktor Kehrfeld passiert ist, was? Er war ein ganz Netter.«
Evelyn horchte auf. »Was hast du denn genau über den Vorfall gehört?«
»Dass er bei einer Routineuntersuchung eines Patienten zusammengebrochen ist.«
Evelyn hob eine Augenbraue. Eine sehr interessante Version der Geschehnisse. »Wer hat dir das erzählt?«
Susanne runzelte die Stirn. »Du.«
Genug. Evelyn rieb sich die Schläfen. Es ging eindeutig zu weit. Vielleicht wurde sie wirklich langsam verrückt. Zuerst das, dann ihre Träume. Sie spähte in die dunkle Ecke, konnte dort aber keinen Nebel entdecken. Natürlich nicht.
»Müde? Das sind wir alle.« Susanne füllte Wasser in die Kaffeemaschine und durchstöberte
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