Schattenseelen Roman
Kugelschreiber fallen und schob die Papiere beiseite. Sie musste sich ablenken, einen klaren Kopf bekommen. Einige Zeit lief sie im Flur auf und ab, dann steuerte sie die Treppe an, ohne recht zu wissen, wohin ihre Beine sie trugen.
Inzwischen war der Mann aus dem Not-OP heraus und befand sich in einem Aufwachraum, das wusste Evelyn. Woher? Das konnte sie nicht beantworten, und war es nicht auch egal? Sie musste ihn sehen! Ja, sie musste ihn mit eigenen Augen sehen, um festzustellen, dass nichts Außergewöhnliches an ihm war.
Ein siebter Sinn führte Evelyn zu ihm, als wäre sie ein Jagdhund, der einer Fährte folgte. Bald erreichte sie das Krankenzimmer, in dem er liegen musste. Sie riss die Tür auf und verharrte.
Nun sah sie ihn. Und fragte sich, ob sie den richtigen Raum erwischt hatte oder ob die Augen ihr einen Streich spielten.
Der Mann blickte aus dem Fenster in die Nacht hinaus, knöpfte sich das Hemd zu und summte etwas, aus dem mit viel Fantasie Ravels Bolero zu erahnen war. Seine Treffsicherheit von Tönen lag unter jedem messbaren Bereich - wenn er genauso gut Motorrad fuhr, wunderte es Evelyn nicht, wie es zum Unfall kommen konnte.
»Was machen Sie da?«, schnaubte sie, zu verwirrt,
um wirklich die Frage zu formen, die auf ihrer Zunge brannte.
Er fuhr herum. In der Dunkelheit konnte Evelyn nur seinen Umriss erkennen, doch sie hätte schwören können, dass seine Augen aufblitzten.
»Mich anziehen. Sie stimmen mir sicherlich zu, dass ich nackt auf der Straße zu viel Aufsehen erregen würde.« Seine Stimme ging ihr unter die Haut. Ein dunkler, stattlicher Klang. Dazu mischte sich ein Akzent. Er rollte das ›R‹, und vor einigen ›S‹ setzte er ein kurzes ›E‹: auf derrr E-straße …
Evelyn tastete nach dem Lichtschalter und machte die Beleuchtung an. Ja, nackt würde er auf der Straße in der Tat zu viel Aufsehen erregen. Sogar angezogen brachte er Evelyn dazu, ihn zu begaffen. Was allerdings nicht so sehr an seinem - im Übrigen recht durchtrainierten - Körper lag, sondern an der Tatsache, dass er völlig unversehrt vor ihr stand. Wo waren denn die gebrochenen Beine abgeblieben? Was war mit dem Schädelbasisbruch geschehen? Allein seine Haut wirkte blass, und das dunkelbraune, leicht gewellte Haar konnte gut einen Kamm vertragen.
Wenigstens summte er nicht mehr.
»Wo haben Sie die Sachen her?«, fuhr Evelyn ihn an, als sie sich wieder in der Lage fühlte, eine sinnvolle Kombination aus verständlichen Lauten hervorzubringen. Eine dumme Frage unter diesen Umständen, aber irgendetwas musste sie sagen, um wenigstens das Gefühl zu haben, Herrin der Lage zu sein.
»Ausgeborgt. Ich unterbreche unser Plauderstündchen nur ungern, aber ich muss los. Ehrlich gesagt, hätte ich hier niemals landen sollen, aber … así es la vida! « Er brach ab. »Ich rede zu viel, was?«
»Sie gehen nirgendwohin, bis ich nicht erfahren habe, was heute vorgefallen ist und warum Bernulf - Doktor Kehrfeld - auf der Intensivstation liegt!«
Sie hörte ein unterdrücktes Lachen. »Ich glaube zwar kaum, dass Sie mich aufhalten können, aber den Versuch würde ich gern erleben.«
Auf einmal stand er direkt neben ihr, ohne dass sie registriert hätte, dass er sich bewegt hatte. Seine Hände umschlossen ihre Wangen. Die Kälte, die sie schon im Schockraum gespürt hatte, kroch unter ihre Haut und verschlug ihr den Atem. Noch nie zuvor hatte sie in ein Gesicht geblickt, das so anziehend war und ihr gleichzeitig solche Angst einjagte. Es glich einer kunstvoll gearbeiteten Totenmaske. Das Dunkelblau seiner Augen wurde immer heller, bis die Iris wie Eis erschien. Der Blick durchbohrte ihre Seele.
Du wirst dich nicht an mich erinnern.
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und schubste ihn weg. »Das hätten Sie wohl gerne, was?«
In Sekunden durchlebte sein Gesichtsausdruck mehrere Wandlungen: Schock, Irritation, Ratlosigkeit. Dann erlangte er seine Fassung wieder. Äußerlich zumindest. Wie durcheinander er war, konnte sie spüren, als wäre sie ein Teil von ihm. Sie schüttelte sich vor Abscheu.
Er neigte den Kopf und musterte sie eindringlich. Wenn er kurz zuvor bloß mit ihr gespielt hatte, so wurde sein Tonfall jetzt mit einem Schlag ernst. »Sie können unmöglich eine von uns sein. Caramba , ich hätte Sie gespürt!«
Die Kälte in ihrem Innern tastete nach ihrer Seele. Die Worte, die er zu ihr sagte, lösten sich in anderen auf, die in ihren Kopf eindrangen: Du kannst mich jetzt nicht hören,
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