Schattenspäher
schien eine Schwäche für die Geografie gehabt zu haben; darüber hinaus hatte er sich wohl erhofft, durch die Silberminen zu Wohlstand zu gelangen. Die Karte war dem Gouverneur nie von Nutzen gewesen, außer dass sie sein Selbstwertgefühl gestärkt hatte. Für Eisenfuß hingegen war sie unbezahlbar.
Sämtliche Messwerte, die von der Forschungsstätte hereinkamen, trug Eisenfuß sorgfältig als Datenpunkte in die Karte ein. Mit einem Lineal zog er perfekt gerade Strahlungslinien von einem Punkt zum anderen. Allmählich kristallisierte sich so etwas wie ein Muster heraus, doch es reichte noch nicht aus.
Unbeherrscht schlug er mit der Faust auf den Tisch. Die vielen Jahre als Gelehrter hatten sein Temperament nicht zu zügeln vermocht. Er war sich dessen bewusst, und es ärgerte ihn maßlos.
Er rieb sich die Augen und trank einen großen Schluck Kaffee. Die Tasse beschwerte die untere linke Ecke der Karte, die sich nun wieder ein wenig einrollte. Geistesabwesend strich er sie mit der Hand glatt. Dann griff er mechanisch zum nächsten Papierstreifen, doch da lag keiner mehr.
Eisenfuß stand auf. Sein Rücken und die Schultern schmerzten, die Müdigkeit kroch ihm in jede Faser seines Körpers. Er hätte sich von einem der Sanitäter mit einem Erfrischungszauber stärken lassen können, aber die wirkten nur auf den Körper, nicht auf den Geist. Was er brauchte, war Schlaf. Echten Schlaf.
Er schlug die Zeltklappe beiseite und wurde sogleich vom staubigen Wind empfangen, der Tag und Nacht über die Grabungsstätte hinwegfegte. Der Dreck drang überall ein; in die Kleider, die Stiefel, die Instrumente und Gerätschaften. Ein Teil des Staubes mochte aus den Unseelie-Steppen im Süden zu ihnen herübergeweht sein, doch ein anderer Teil - und darüber wollte Eisenfuß lieber nicht nachdenken - stammte gewiss von den hier eingeäscherten Faemännern, -frauen und -kindern. Den Nachfahren der Gründer dieser einst ältesten elfischen Stadt.
»Armin«, rief er nach seinem Gehilfen, der am Rande des Kraters stand und Wasser aus einem Metallbecher schlürfte. Armin war jung, noch Student, doch er lehrte bereits an der Universität und würde sicherlich zum Ordinarius aufsteigen, wenn sie wieder nach Smaragdstadt zurückkehrten.
»Hier drüben, Meister Falores«, antwortete Armin, wobei er nach wie vor gebannt in den Krater starrte. Eisenfuß ging zu ihm.
»Ich wünschte, Ihr würdet mich einfach Eisenfuß nennen. Wie jeder andere auch.«
»Tut mir leid, aber das würde meine Mutter nicht dulden«, sagte Armin. Er war ein gewissenhafter, pflichtbewusster Schüler. Und wenn er darüber hinaus ein wenig altmodisch sein wollte, so war es Eisenfuß auch recht.
Unter ihnen durchkämmte eine Studentengruppe die Ruinen im Krater, inspizierte jedes Stück Schutt, jeden Knochen, jedes Stück Metall. Jeder Schüler trug einen Intensitätsindikator bei sich, dessen Daten alle paar Minuten abgelesen wurden. Die Ergebnisse wurden sodann auf einem Streifen Papier festgehalten, um zuletzt von Eisenfuß in die Karte eingetragen zu werden. Die Schüler hatten zuerst ein bisschen genörgelt, als man ihnen die Aufgabe übertrug. Niemand von ihnen hatte so recht verstanden, wozu das alles gut sein sollte, doch am Ende hatten sie ihren Widerstand aufgegeben. Für die Aussicht auf freie Verpflegung und selbst den kärglichsten Lohn, würde sich jeder Student mit Freuden von einem beliebigen Körperteil trennen, das wusste Eisenfuß.
»Sollen wir runtergehen?«, fragte Armin. »Nachsehen, ob es neue Erkenntnisse gibt?«
Eisenfuß nickte. »Es wird nicht mehr lange dauern. Vielleicht noch ein, zwei Tage, dann haben wir alles zusammen, was es hier zu holen gibt.«
Armin und Eisenfuß begannen unwillkürlich durch den Mund zu atmen, als sie den Abstieg in den Krater antraten. In den Krater, an dessen Stelle noch vor einem Jahr die Seelie-Stadt Selafae gestanden hatte.
Am Fuße des Trichters herrschte ein absonderlicher Gestank, einer, den niemand so recht in einem Wort zu beschreiben vermochte, obwohl er sich aus Gerüchen zusammensetzte, die allen wohlvertraut waren: ein leichter Hauch von Zimt, der Duft von gebratenem Schinken, fast angenehm, wäre da nicht der beißende Gestank nach verbranntem Teer, der einem ebenfalls in die Nase stieg. Sie waren nun schon sechs Wochen hier, und niemand hatte sich bisher daran gewöhnen können. Einige der Schüler trugen ein Stück Stoff über Mund und Nase, aber auch das schien nicht viel zu nützen. Ein
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