Schattenspäher
ich all Eure Sachen durchstöbert hab?«
Eisenfuß hatte jede Besorgung getätigt, die ihm eingefallen war, jede Nachricht beantwortet, ja, sogar die Wohnung geputzt und die Papiere im Büro geordnet. Wovor lief er eigentlich davon? Er hatte es kaum abwarten können, in die Stadt zurückzukehren, und nun, da er hier war, zögerte er das Unvermeidliche wieder und wieder hinaus.
Die Karte stand in einer Ecke seines Büros. Aufgerollt und in einer Röhre verstaut, die größer war als er selbst. Das Behältnis war mit seinem persönlichen Universitätssiegel verschlossen. Die Karte schien nach ihm zu rufen, und ein Teil von ihm wollte ihr auch antworten, doch ein anderer Teil hätte sie am liebsten verbrannt.
Wieso? Warum dieses Schuldgefühl? Weil er den Schlüssel zur Rekonstruktion dieser Waffe in Händen hielt? Das bezweifelte er, um ehrlich zu sein. So sehr ihn der Gedanke verstandesmäßig beschäftigte, so wenig rechtfertigte er das mulmige Gefühl in seiner Magengegend. War es das Grauen, das die Karte umgab? Der Gestank des Todes und der fahle Staub, der von ihr aufzusteigen schien, obwohl in Wahrheit nicht der geringste Geruch von ihr ausging? Nein, das war es auch nicht.
Er wusste, was es war, konnte es sich allerdings nicht eingestehen.
Am nächsten Morgen erwachte er früh, stürzte eine starke Tasse Kaffee herunter und zwang sich anschließend dazu, die Karte zur Hand zu nehmen. Er entrollte sie im kleinen Salon seiner Wohnung, wo sie den gesamten Boden bedeckte; er war aus Platzgründen sogar gezwungen, die Polsterbank in die Küche zu schieben. Die Papierstreifen mit den letzten Messergebnissen türmten sich fein säuberlich auf einem Stuhl in der Nähe, auf dem auch seine Kaffeetasse stand. Er nahm Federkiel und Lineal zur Hand und begann mit der Arbeit.
Nachdem alle Daten eingetragen waren, erfolgten die Berechnungen. Diese nahm er auf liniertem Papier vor, das er eigens dafür beim Schreibwarenladen der Universität bestellt hatte. Mit jedem neuen Ergebnis erschien eine weitere Linie auf der Karte. Ein Netz entstand, ein Muster nahm Gestalt an. Das war gut. Und doch wollte ihn dieses Unbehagen nicht verlassen. Das Unbehagen war eng verknüpft mit diesem seltsamen Teergeruch, den er einfach nicht zuordnen konnte, mit dieser Erinnerung, die er nicht zu fassen bekam. Je weiter sich das Muster auf der Karte entfaltete, umso stärker wuchs das Grauen, das er empfand.
Als er das nächste Mal aufschaute, zeigte die Uhr nach Mitternacht. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, und im Raum wurde es kalt. Er stocherte in der Glut herum, goss sich einen Whiskey ein und machte sich wieder an die Arbeit.
Als der Morgen dämmerte, hatte er die formelbasierten Interpolationen abgeschlossen. Er wusste nicht mehr, wie viele Tassen Kaffee er seit dem Aufstehen getrunken hatte; das ließ sich nur ungefähr an seinem zunehmend sauren Magen und der Frequenz ablesen, in der er austreten musste. Das Netzmuster war fertig, mehr oder weniger. Einige der Messergebnisse fehlten, andere, da war er sich sicher, waren frei erfunden. Besonders ein Bereich auf der Karte erwies sich als totale Pleite, wichen die dortigen Ergebnisse doch völlig von denen der anderen Sektoren ab. Der betreffende Abschnitt war von dem nichtsnutzigen Sprössling eines Lords durchkämmt worden. Der Vater hatte den Sohn zu dieser Arbeit genötigt in der irrigen Annahme, sie würde seinen Charakter festigen. Eisenfuß hätte dem Alten gleich sagen können, dass es da nichts zu festigen gab.
Wie dem auch sei, was er hatte, reichte aus, und nun konnte der ernsthafte Teil seiner Arbeit beginnen. Er kopierte das Netz mit den Messpunkten von der Karte auf ein frisches Blatt linierten Papiers - es war groß, wenngleich nicht ganz so groß wie die Karte selbst. Allein das Streudiagramm war darauf zu sehen, sodass das Spektrum der Invokation nun lebhaft herausstach. Das Netz lag vor ihm und bettelte darum, interpretiert zu werden. Ein Muster, ja, doch was sagte es aus? Als er versuchte, sich den Moment des Ereignisses vorzustellen, war ihm, als müsse ihn die Antwort förmlich anspringen. Die genauen physikalischen Komponenten. Das präzise Verhältnis der Elemente, der Bewegung, des Gleichgewichts und womöglich einer der anderen Gaben, die dabei eine Rolle gespielt haben mochten. Das alles sollte eigentlich dort zu lesen sein, ihm direkt ins Auge springen. Aber das tat es nicht. Das Muster sagte nichts aus. Das Muster bedeutete nichts. Es war nur ein
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