Schattenspäher
herum, doch nur die wenigsten Gäste erkannten ihn wieder. Und diejenigen, die es taten, schauten sogleich wieder desinteressiert weg. Vor seiner Inhaftierung in Crere Sulace, vor seiner langen Reise mit Mauritane, vor seiner Entstellung durch Faella, ja, da hätten sie ihn alle wiedererkannt, insbesondere die Damen. Aber diese Zeiten waren lange vorbei.
Wie immer suchte ihn auch hier die Erinnerung an Faella heim. Trotz allem, was sie seinem Gesicht angetan hatte, konnte er ihr die Tat nicht verübeln, konnte er ihr einfach nicht böse sein. Er hatte diese Strafe verdient. Wenn nicht dafür, dass er ihre kurze Affäre so schnöde beendet hatte, dann für all die anderen, auf ähnlich schändliche Weise beendeten Liebschaften in seiner lebhaften Vergangenheit.
Vor der Tür zu einem privaten Speisezimmer hielt der Diener an. Darin saß Lord Everess zusammen mit einem Mann, den Silberdun als Baron Glennet erkannte. Der Baron bekleidete einen der höchsten Posten im Oberhaus. Mit am Tisch saß eine ältere Frau, die Silberdun nicht kannte. Die erlesene Abendgesellschaft schlürfte gerade eine Blütenbrühe, die einfach herrlich duftete.
Everess und Glennet erhoben sich von ihren Plätzen, als Silberdun eintrat; die Frau nickte ihm nur zu. Ihre Schärpe wies sie als Zunftmeisterin aus.
»Bin ich zu spät?«, fragte Silberdun.
»Überhaupt nicht«, rief Everess jovial und schüttelte Silberdun die Hand. »Gerade rechtzeitig!«
Silberdun verbeugte sich. »Baron Glennets Ruf eilt ihm voraus, aber ich fürchte, die Zunftmeisterin und ich hatten noch nicht das Vergnügen.«
»Gewiss«, sagte Everess. »Perrin Alt, Lord Silberdun, darf ich Euch Zunftmeisterin Heron vorstellen, unsere erlauchte Staatssekretärin des Außenministeriums.«
»So erlaucht bin ich nun auch wieder nicht«, sagte Heron. »Der Außenminister übertreibt mal wieder wie gewöhnlich.« Sie war schon älter, hart an der Grenze zu steinalt, aber ihre Augen leuchteten wach und intelligent. Sie bedachte Everess mit einem leicht missbilligenden Blick, den dieser sehr wohl registrierte. Silberdun mochte sie auf Anhieb.
»Kommt, Silberdun, setzt Euch«, rief Glennet. »Wir haben viel zu besprechen!« Glennet hatte den Ruf eines erfahrenen Schlichters und im Oberhaus schon so manchen Kompromiss herbeigeführt. Wie auch zwischen dem Oberhaus und dem Haus der Zünfte, zweier Parlamentskammern, die sich nicht mal auf die genaue Uhrzeit einigen, geschweige denn in Regierungsangelegenheiten verständigen konnten. Auch Glennet war schon alt, doch seine Überschwänglichkeit verlieh ihm den Anschein von Jugend.
»Ich fürchte, mein Konversationsgeschick hat in den letzten Monaten ein wenig gelitten«, sagte Silberdun, während er Platz nahm. Geräuschlos servierte ihm ein Kellner eine Terrine mit Brühe.
»Ach, ja«, sagte Glennet. »Der Edelmann im Mönchsgewand! Es freut mich, dass es uns gelungen ist, Euch für dieses Abendessen aus dem Hort Eurer inneren Einkehr zu entführen.«
»Wie es scheint, ist das Klosterleben doch nicht das Richtige für mich«, räumte Silberdun ein, wobei er versuchte, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
»Nun, Ihr hattet gewiss Eure guten Gründe, einen solch ... ungewöhnlichen Pfad zu beschreiten«, sagte Heron. »Doch ich bin der Meinung, dass die breiteren Wege nicht ohne Grund breiter sind, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
»Selbstverständlich«, sagte Silberdun. Er verstand sie nur zu gut und mochte sie deshalb gleich ein klitzekleines bisschen weniger.
»Man kann nur froh sein, dass sich Baron Glennet vom Spieltisch losreißen konnte, um sich zu uns zu gesellen«, sagte Heron.
Glennets Lächeln welkte dahin. »Wir haben alle unsere kleinen Laster, Zunftmeisterin.« Die Tatsache, dass er die Frau nicht mit »Staatssekretärin« ansprach, entging niemandem bei Tisch.
Staatssekretärin Heron wollte schon etwas darauf erwidern, als die Suppenterrinen abgeräumt und der Hauptgang serviert wurde: geröstete Wachteln in einer Soße aus Rosinen und Blütenstaub, dazu ein Likör, den Silberdun nicht identifizieren konnte. Er nahm einen Schluck und hoffte, dass ihm endlich jemand erklärte, worum es bei diesem Abendessen eigentlich ging. Mit Sicherheit nicht um ein geselliges Beisammensein, so viel stand fest. Everess und Heron konnten einander ganz offensichtlich nicht ausstehen.
Glennet betupfte sein Kinn, als handele es sich dabei um ein zerbrechliches Kunstobjekt. »Staatssekretärin Heron«, sagte er,
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