Schattenspäher
einer der schweigsamen Bootsmänner zuwarf. Mit geübter Hand befestigte er das dicke Seil an einem Poller; dann ging er zum Heck und verfuhr dort auf die gleiche Weise. Bald lag die Treibholz fest vertäut und nur noch sanft schwankend ans Dock geschmiegt da. »Wir sind da!«, rief Ilian. »Kommt an Land!«
Hinter Silberdun wurden seltsam knirschende Geräusche laut; sie kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Er drehte sich um und sah, wie die Besatzung, und zwar alle fünf Männer, mit einem Schlag auf der Stelle verharrte - ihre Gliedmaßen erschlafften, und ihre Oberkörper erstarrten in einer leicht nach vorn gebeugten Haltung. Die Luft flimmerte, als gleichzeitig verschiedene Blendwerkseffekte verblassten, bis anstelle der Seeleute schließlich fünf reglose Automaten dastanden; sie waren aus Silber und Messing und in menschlicher Gestalt gefertigt worden. Silberdun war beeindruckt.
Vorsichtig ging er von Bord und nickte Ilian zu. »Interessante Crew, die Ihr da habt.«
»Ihr mögt die Jungs, hab ich Recht?«, sagte Ilian. »Meister Jedron wünscht keine wie auch immer gearteten Besucher auf der Insel. Nur seine Studenten werden hier gerade so geduldet, und natürlich ich, den er von ganzem Herzen liebt.«
»Soll ich jetzt einfach dort hochspazieren und bei ihm vorstellig werden?« Silberdun deutete Richtung Kastell Weißenberg.
»Aber nein, ich begleite euch. Immerhin bin ich Meister Jedrons Diener. Das gehört zu meinen Aufgaben.«
Silberdun runzelte die Stirn. »Ich dachte, Ihr wäret nur der Kapitän.«
Ilian trat einen Schritt näher, schnippte mit den Fingern, und seine Augen weiteten sich, als er spöttisch sagte: »Nichts ist, wie es scheint!«
Der Marsch hinauf zur Burg war beschwerlich und trostlos. Die ganze Zeit über zerrte ein strenger, nasskalter Wind an ihnen, während sie sich die Serpentinen auf der Bergseite hinaufkämpften. Als sie die Burg endlich erreicht hatten, war Silberdun erschöpft und seine Kleidung klamm. Es war dunkel geworden, und der Wind pfiff ihnen hier auf der Spitze nur noch heftiger um die Ohren.
Wenn man direkt davorstand, wirkte Kastell Weißenberg nicht halb so verfallen wie aus der Ferne. Die Anlage bestand aus einem einzelnen Turm, dem ein quadratischer Hof vorgelagert war. Zwar war die steinerne Außenmauer zusammengefallen, doch der Burghof dahinter war blitzblank. Die äußeren Wände der Burg wirkten stabil und gerade und alles in allem gut in Schuss; die Fensterscheiben waren klar und unzerbrochen. Der Vorplatz war verwaist. Falls Meister Jedron außer Ilian noch andere Bedienstete hatte, so waren sie jedenfalls nirgends zu sehen. Silberdun konnte es ihnen nicht verübeln; er wäre in dieser ungemütlichen Nacht auch in der Burg geblieben.
»Kommt schon.« Ilian winkte Silberdun zu sich. Dann stieß er die schwere Holzeingangstür auf und betrat ohne ein weiteres Wort das Kastell.
In der Burg war es trocken und kühl. Die Haupthalle war spärlich und auf eine Weise dekoriert, die schon seit Dekaden aus der Mode war - ganz offensichtlich wirkte auf Kastell Weißenberg keine weibliche Hand. Ilian schritt zügig durch die große Halle und auf eine breite Wendeltreppe zu, die den Turm hinaufführte. Silberdun folgte ihm. Die Stufen zogen sich über verschiedene Stockwerke bis ganz nach oben - der gesamte Aufgang wurde durch Hexenlichtfackeln erleuchtet. Sie verströmten ein orangefarbenes Licht, das zwar warm wirkte, jedoch keine Wärme ausstrahlte.
Oben angekommen, endete der Aufstieg vor einer stabilen Holztür. Ilian klopfte, dann herrschte einen Moment lang absolute Stille. Schließlich rief von drinnen eine raue Stimme: »Herein!«
Meister Jedrons Studierzimmer nahm das gesamte oberste Stockwerk ein. Es war gemütlich, ohne luxuriös zu sein: an den Wänden hingen Tapeten; Leuchter mit brennenden Wachskerzen waren überall im Raum verteilt. Gegenüber der Tür brannte ein gut geschürtes Kaminfeuer. Mitten im Zimmer saß Meister Jedron vor einem großen Tisch aus Ebenholz; er hatte die gestiefelten Füße auf die Platte gelegt. Das schulterlange grau melierte Haar war sorgsam gescheitelt; das tief zerfurchte Gesicht ließ ihn unsagbar alt erscheinen, und doch umgab den Mann nicht der geringste Hauch von Gebrechlichkeit. Er hielt einen gläsernen Briefbeschwerer in der Hand, den er geistesabwesend hochwarf und wieder auffing, als Silberdun und Ilian eintraten.
Aus zusammengekniffenen Augen starrte Jedron den Neuankömmling einen Moment lang an.
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