Schattenspiel
fühlten uns am Ende und in einer ausweglosen Lage. Auch mit David muß es so gewesen sein, und es tut mir in der Seele weh, daß wir nicht einmal versucht haben, ihm zu helfen. Was jetzt noch bleibt, ist, uns selber zu helfen. Wir müssen immer daran denken, daß... ich meine«, sie hielt ihre Handtasche an sich gepreßt wie ein Schulmädchen, und die grünen Augen waren weit aufgerissen, »ich meine, mir ist eingefallen, wie ich vor langen Jahren einmal, es war noch in Saint Clare, an einem Novembermorgen die letzten Rosen aus dem Garten holte und in eine Vase stellte. Die Rosen waren schon etwas verblüht, sahen müde und erschöpft aus. Während ich sie in die Vase ordnete, war ich traurig, weil ich wußte, ich tat es zum letzten Mal in dem Jahr. Aber dann sagte ich mir, ich werde es im nächsten Jahr wieder tun, und im Jahr darauf, und mein Leben lang, denn es würde immer neue Rosen geben. Und es... es ist jetzt auch so, oder?«
Philadelphia, Detroit, Rom, Katmandu, Johannesburg, Hongkong, Kairo blinkte es von den elektronischen Anzeigetafeln. Menschenmassen drängten sich in den Hallen. Schwerbewaffnete Polizisten kontrollierten die Eingänge zu den Maschinen. Lautsprecheransagen hallten durch die Luft. Durch die Dunkelheit sah man die Lichter der Rollbahn. Von JFK aus starteten
Flugzeuge in die ganze Welt, aus der ganzen Welt kamen sie hier zusammen. Unermüdlich, jede Minute, Start und Landung. Ein perfekt organisiertes, verwirrendes, grandioses Schauspiel.
Wir leben in einer herrlichen Zeit, dachte Gina, und wie immer auf Flughäfen hatte sie das Gefühl, am ganzen Körper elektrisiert zu sein. Sie lachte plötzlich ihr zynisches, lautes Lachen. »Als ich vor einer Woche auf diesem Flughafen ankam, war ich so arm wie eine Kirchenmaus, und jetzt, wo ich von hier abfliege, bin ich um keinen Cent reicher. Und dafür bin ich nun in dem schwarzen Neglige zu David geschlichen...das Leben kann so grotesk sein! Was meinst du, Mary, hat er über uns alle im Innern nur gelacht?«
Mary zuckte mit den Schultern. »Wann hat man schon je gewußt, was in David vorging?«
Beide schwiegen, gaben sich noch einer kurzen Erinnerung an den toten David hin. Dann fuhr Mary leise fort: »Wir sehen uns alle wieder, ja?«
Die beiden Frauen blickten einander an. Gina nickte. »Natürlich. Spätestens nächstes Weihnachten. Bei dir und Nat vielleicht.«
Mary lächelte. »Ich würde mich so freuen!«
»Wir sollten jetzt wirklich zu unserem Gate gehen«, sagte Gina sachlich, denn sie hatte das Gefühl, Mary werde über kurz oder lang in Tränen der Rührung ausbrechen. Sie kramte ihre Bordkarte aus der Tasche. »Also dann, Mary, bleiben wir dabei – Weihnachten in Paris!«
30. Auflage
Taschenbuchausgabe April 1993
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © 1991 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagfoto: Superbild/Bernd Ducke
NG ·Herstellung: Heidrun Nawrot
eISBN 9783641051860
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