Schattenspiel
Schauspiel letzte Nacht, nicht? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. David ist tot. Auf eine gewisse Weise fühlen wir uns alle erleichtert. Die Schuld war gesühnt. Uns erfüllte etwas Feierliches, Erhabenes. Laura und wir alle bildeten eine Einheit. Es hätte ein Happy-End sein können. Ein wunderschönes Happy-End.«
Natalie und Steve schwiegen. Schließlich sagte Natalie leise: »Es gibt keine Happy-Ends!«
»Nein«, sagte Gina. »Schon deshalb nicht, weil es nie ein Ende im Leben gibt. Das Ende ist erst der Tod, und was wissen wir, was dann noch alles kommt. Auf Nächte wie die gestrige folgt immer unweigerlich der nächste Morgen. Und im hellen Licht sieht alles ganz anders aus.«
Seltsam, dachte Steve, genau das empfand ich heute früh. Und Laura sagte auch etwas in der Art. Ist uns allen ein Schleier vom Gesicht gezogen?
»Im hellen Licht«, fuhr Gina fort, »denkt sich der liebe, kleine Steve: Jetzt weiß ich so viele Geheimnisse von Laura Hart, die für gewisse Leute außerordentlich interessant wären. Was würde die reiche Laura Hart wohl an Dollars auf den Tisch blättern, wenn ich dezent andeutete, ich würde andernfalls meine Geheimnisse da und dort ausplaudern?«
»Du redest ja Unsinn!«
»Müssen wir das alles hier auf dem Gang besprechen?« fragte Natalie. »Man weiß nie, wer hier alles zuhört!«
Steve entschloß sich zum Gegenangriff. »Wie lange hätte es denn gedauert, und du wärest zu Laura gegangen, Gina? Und wann Mary? Und auch unserer edlen Natalie wäre es irgendwann
aufgegangen, daß hier vielleicht etwas zu holen ist! Das war doch nur eine Frage der Zeit!«
Ein Hausmädchen kam vorbei, musterte die kleine Gruppe schüchtern, grüßte leise. Als sie verschwunden war, murmelte Gina: »Wir haben uns sehr verändert. Als wir noch ganz jung waren, Kinder beinahe – ich hätte meine Hände dafür ins Feuer gelegt, wir wären alle bei der Stange geblieben. Eisern.«
»Das Leben gewöhnt einem die Loyalität ab«, sagte Natalie. »Wie ist es – würdet ihr gern die Zeit noch einmal zurückdrehen? «
»Nein«, erwiderten Steve und Gina aus einem Mund, und beide dachten sie dabei sehnsüchtig: Ja. Ja. Ja.
Ein Sonnenstrahl tanzte durch das ovale Deckenlicht und beleuchtete eine Bronzestatue, die auf einem Glastisch stand. Sie stellte einen muskulösen, schlanken Mann dar, der einen Speer hoch über dem Kopf hielt, so, als wolle er ihn gleich von sich schleudern. Im ganzen Penthouse wimmelte es von solchen Szenen, als Plastiken und auf Bildern. David hatte Kriegsmotive geliebt.
Wenigstens, dachte Gina, hat er keine kitschigen Jagdbilder aufgehängt, erlegte Hirsche im Abendsonnenschein und ein Rudel kläffender Hunde drumherum.
Wer war David Bellino wirklich gewesen?
Auf einmal müde und erschöpft gab Gina es auf, dieses Rätsel zu ergründen. Zwei Dinge beschäftigten sie: zum einen die Enttäuschung darüber, daß Freundschaft so rasch und spurlos verblassen konnte wie Sterne am Morgenhimmel – nichts blieb, wenn sich das Leben von seiner rauhen Seite zeigte und blanker Egoismus sich als lohnender erwies. Und dann dachte sie an Charles. Auf einmal drängte es sie zu ihm zurück. Solange sie ihn kannte, hatte sie nie Sehnsucht nach Charles Artany gehabt, aber plötzlich fehlte er ihr, sein vertrauensvoller Blick aus großen, dunklen Augen, seine sanfte Stimme, sein scheues Lächeln, das um Zärtlichkeit warb. Sie dachte an ihn mit jener Mischung aus Gereiztheit und Liebe, mit der eine Mutter an ihr quengeliges, schwieriges, aber anhängliches Kind denkt.
Ich will zurück. Nach Hause. Zu Charles. Weg von New York, dem toten David, dem Inspektor, weg von Verdächtigungen, Intrigen, unverhohlenen Erpressungsversuchen. Ich habe alles so satt!
In ihrer unsentimentalen Art wandte sie sich ab von ihren eigenen Gedanken und sagte lebhaft: »Ich könnte jetzt ein paar richtig schöne, zynische Bemerkungen über Freundschaft machen, aber...«
»Davon sind wir überzeugt!« warf Natalie ein.
»... aber wir waren ja eigentlich auf dem Weg zum Frühstück, und vielleicht sollten wir diesen Plan weiterverfolgen. Ich verhungere gleich. Was ist, kommt ihr mit?«
»Sollten wir nicht Laura fragen, ob sie auch mit uns frühstücken will?« meinte Natalie zögernd.
»Besser nicht. Sie würde denken, wir wollen uns bei ihr einschmeicheln, oder wir wollten ihr diskret klarmachen, was wir zu tun gedenken, wenn sie uns nicht ein paar Dollar zufließen läßt.« Gina grinste. »Mit bestimmten
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