Schattenspieler (German Edition)
keinen Zweifel daran, dass sie selbst entscheiden
wollte, wann das Thema wieder angeschnitten werden sollte.
Die ganze Zeit über hatte diese nicht erzählte Geschichte
wie ein ungeladener Tischgenosse das Esszimmer ausgefüllt.
Die Schießerei draußen hatte aufgehört, sodass die Stille umso
bedrückender gewesen war bei diesem Abendessen, das Friedrich
eher wie ein verspätetes Frühstück vorgekommen war:
Zwieback mit reichlich Erdbeermarmelade, sonst nichts. Die
Marmelade – einen ganzen Metalleimer voll – hatte Mutter
bei einer Nachbarin gegen einen von Vaters Anzügen eingetauscht,
die immer noch in einem Kleiderschrank auf dem
Dachboden hingen. Die Nachbarin hatte ihrerseits die Marmelade
in einem Vorratslager ergattert, das von der Wehrmacht
für die Bevölkerung geöffnet worden war, weil wegen
des Dauerbeschusses ohnehin nicht mehr an eine ordnungsgemäße
Verteilung zu denken war. Sie hatte erzählt, dass es
ein fürchterliches Hauen und Stechen um die Lebensmittel
gegeben hatte. Jeder hatte an sich gerissen, was er bekommen
konnte, und besagte Nachbarin war mit zwei Marmeladeneimern
unter dem Arm aus dem Gerangel entkommen. Jetzt
besaß sie nur noch einen davon und ihr Mann dafür einen gebrauchten
Anzug, der ihm wahrscheinlich zu groß war. Vom
Fenster aus hatte Friedrich gesehen, wie die Leute mit Kisten
voller Margarine und Konserven durch die Straße hetzten.
Der Krieg ging mit einer merkwürdigen Mischung aus Mangel
und Überfluss zu Ende.
Friedrich hatte sich das ganze Abendessen über zwingen
müssen, nicht ständig zu dem Plan mit der Grabstätte und
dem kleinen roten Kreuz zu schielen, der immer noch auf dem
Tisch lag. Fast war es ihm vorgekommen, als hätte seine Mutter
die Zeichnung absichtlich dort liegen gelassen, um zu prüfen,
ob er in Versuchung geriet. Er wusste, dass er heute Nacht
dorthin schleichen und die Bodenplatten hinter dem Altar
aufhebeln würde. Und er wusste, dass sie es ihm verbieten
würde. Aber die Neugier brachte ihn fast um den Verstand.
Und jetzt lag er in seinem Zimmer auf dem Bett und blätterte
in einer zerfledderten Ausgabe der Abenteuer des Freiherrn
von Münchhausen – bei Kerzenschein, weil kurz nach
dem Essen der Strom ausgefallen war. Aber er las ohnehin
nicht richtig, weil seine Gedanken ganz woanders waren. Jeden
Satz musste er dreimal durchgehen, und manchmal starrte er
minutenlang auf die Buchstaben, ohne die Worte überhaupt
wahrzunehmen. Immer wieder erschien vor seinem inneren
Auge der Pavillon mit der Grabstätte, so deutlich wie seine
Erinnerung an die wenigen Besuche auf dem Friedhof das
eben hergab. Was in aller Welt hatte sein Vater dort versteckt?
Marlene spielte nebenan im Dunkeln Klavier. Nach einer
Ewigkeit hörte er die Schritte seiner Mutter auf der Treppe.
Kurz darauf erschien ihr Gesicht in der Tür. Die Kerzen flackerten
leicht im Lufthauch. Friedrich blickte auf und tat,
als hätte sie ihn aus der Lektüre gerissen. Sie trat ein, ging zu
seinem Bett, kniete sich vor ihn und nahm sein Gesicht in die
Hände, was sie sonst nie tat. Eine Weile schaute sie ihn an.
Im Kerzenschein sah sie sehr jung aus. Dann schlang sie ihre
Arme um seinen Hals und drückte ihn an sich.
»Ich erzähle euch alles«, sagte sie mit belegter Stimme. »Gebt
mir ein paar Tage, bis das hier vorbei ist.«
Friedrich sagte nichts, sondern erwiderte den Druck ihrer
Umarmung. Schließlich stand sie auf und ging ohne ein Wort
aus dem Zimmer. In der Tür drehte sie sich noch einmal um.
»Du verdirbst dir die Augen«, sagte sie und lächelte. Dann
schloss sie die Tür.
Friedrich legte das Buch weg und schaute eine Weile zur
Decke. Drüben wurde die Schlafzimmertür geschlossen und
kurz darauf hörte er das Bett knarren. Seine Mutter schlief
eigentlich immer sofort ein, aber heute war nicht irgendein
Tag; heute hatte sie erfahren, dass ihr Mann nicht mehr lebte,
und möglicherweise würde sie die ganze Nacht wach liegen.
Vielleicht hörte sie ihn auf der Treppe. Sollte er sie ausgerechnet
jetzt hintergehen? Andererseits: Wenn morgen die Russen
kamen und den Friedhof mit ihren Panzern durchpflügten,
war das, was dort versteckt war, vielleicht für immer verloren.
Und wenn er erst wieder zurück war, konnte sie sich ja schlecht
nachträglich Sorgen machen. Vater hatte den Umschlag vor
zwei Jahren vorbeigebracht. Für uns . Das hatte sie gesagt. Also
auch für ihn. Und ich bin jetzt der Mann im Haus, dachte er
und kam sich im gleichen Augenblick völlig lächerlich
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