Schattenspieler (German Edition)
dass sich
hinter ihm noch weitere Gestalten ins Dunkel drängten, die
nicht gesehen werden wollten. Er hatte in drei gehetzte Augenpaare
geblickt, Deserteure oder vielleicht Flüchtlinge wie
er, wer wusste das schon; sie waren in verschiedene Richtungen
auseinandergegangen, ohne ein Wort zu wechseln, obwohl
sie doch offensichtlich alle mit diesem Krieg nichts mehr
zu tun haben wollten. Argwohn war die einzige Gefühlsregung,
der man sich noch hingeben durfte. Aber war Argwohn
überhaupt eine Gefühlsregung?
Dann die merkwürdige Begegnung mit dem Jungen auf der
Spandauer Straße. Die Welt geht unter , hatte der gesagt, und
Leo: Das ist nicht meine Welt . Das konnte alles und nichts bedeuten,
aber da war dieses feine Lächeln auf den Lippen des
Jungen gewesen, mit dem er anscheinend versuchen wollte,
das übermächtige Misstrauen einzureißen. Doch Leo hatte
nichts riskieren wollen, er war losgerannt, weil dieses Lächeln
ihm sagte, dass der andere ihm nicht in den Rücken schießen
würde, und mehr hatte er nicht wissen wollen.
Drei Barrikaden hatte er umgehen müssen, während wenige
Meter entfernt Soldaten rauchten und schwatzten. Niemand
hatte versucht, ihn aufzuhalten. Einmal war Leo durch einen
Sperrgraben gekrochen, der mitten durch einen Garten verlief.
Am Gartenzaun war er plötzlich mit einem Soldaten zusammengestoßen,
der dort neben einem Baum auf Spähposten
gestanden hatte; der Soldat hatte ihm einen kurzen Moment
lang in die Augen geblickt und ihn dann mit einem Kopfnicken
verscheucht, und Leo war über den Zaun gesprungen
und weitergerannt. Was war das , hatte jemand aus dem Garten
gerufen, und der Soldat hatte zurückgerufen: Nichts. Nur eine
Scheißkatze .
Und jetzt war Leo auf einer Landstraße, irgendwo hinter
Spandau. Er hatte keine Uhr, aber allein anhand der zurückgelegten
Entfernung ließ sich ausrechnen, dass die Nacht bald
vorbei sein würde. Vom Laufen taten ihm die Beine so weh,
dass er die Prellungen am Oberkörper schon fast nicht mehr
spürte. Er war müde und schrecklich hungrig. Hätte ich wenigstens
ein paar Kartoffeln aus Wilhelms Kiste mitgenommen,
dachte er. Die Flucht aus dem Keller kam ihm vor wie
ein Ereignis aus einer anderen Epoche, dabei lag nur eine halbe
Nacht dazwischen.
Er lief und lief. Hier und da blitzte am Himmel etwas auf.
Vielleicht ist das hier schon das Niemandsland, dachte er.
Wenn das so war, dann musste er früher oder später den Russen
in die Arme laufen. Aber was passierte, wenn seine vermeintlichen
Befreier ihn für einen deutschen Soldaten hielten,
den man zum Spionieren losgeschickt hatte? Wie sollte er
ihnen erklären, wer er war? Was für eine paradoxe Situation:
Für die Deutschen, vor denen er floh, war er kein Deutscher,
und die Russen, zu denen er flüchtete, würden ihn möglicherweise
erschießen, weil er eben doch ein Deutscher und somit
ein Feind war.
Irgendwann tauchte aus der Dunkelheit ein kleines Wäldchen
vor Leo auf. Im Näherkommen erkannte er, dass es eine
Parkanlage war, in deren Mitte sich eine dunkle Silhouette
erhob. Die Umrisse eines Türmchens mit Wetterfahne überragten
die Baumwipfel knapp. Offenbar ein Jagdschloss. Obwohl
nichts darauf hindeutete, dass sich hier jemand aufhielt,
zog Leo instinktiv den Kopf ein, als er sich dem Gebäude
näherte. Vielleicht kann ich mich da eine Weile ausruhen,
dachte er.
Die Straße machte einen leichten Knick nach rechts, um
dem Park auszuweichen. Leo sprang über einen flachen Graben
und schlich die letzten hundert Meter über das Feld auf
die Anlage zu. Er erreichte einen mannshohen Holzzaun, der
sich mühelos überklettern ließ. Es raschelte, als er im Unterholz
aufkam. Eine Weile blieb er regungslos stehen, aber nichts
geschah. Dann schlich er vorwärts und umrundete in einem
Bogen das Gebäude, um sicherzugehen, dass nirgendwo Licht
brannte. Schließlich trat er aus seiner Deckung aus Baumstämmen
und Blätterwerk hervor.
Leo blickte sich um. Das Jagdschloss lag verlassen im schwachen
Mondlicht vor ihm und die Welt schien den Atem anzuhalten.
Hinter dem Horizont hatte die ganze Zeit über die
Artillerie gegrollt – mal lauter, mal leiser, je nachdem, wie der
Wind stand. Jetzt war es auf einmal still.
Vorsichtig überquerte Leo den Schlosshof, der rechts und
links von zwei Scheunen begrenzt wurde. Alle Tore standen
offen, dahinter herrschte gähnende Leere. Alles richtig gemacht,
dachte Leo spöttisch. In Ruhe noch die Sachen gepackt
und dann ab nach Westen, bevor der Iwan den
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