Schattenspieler (German Edition)
vor.
Schließlich gestand er sich ein, dass das alles nur Ausreden
waren, mit denen er seine Neugier vor sich selbst rechtfertigte.
Und dass die Neugier gesiegt hatte.
Was soll's, dachte er, schwang die Füße aus dem Bett und
lauschte. Aus dem Schlafzimmer seiner Mutter drang ein leises
Schnarchen. Sie war tatsächlich schon eingeschlafen.
Friedrich schlich die Treppe hinunter. Auf dem Telefontischchen
am unteren Treppenabsatz lag immer eine Schachtel
Streichhölzer. Es raschelte leise, als er sie einsteckte. Friedrich
war sicher, dass zumindest Marlene ihn hörte mit ihren
Luchsohren.
Aber was war schon dabei? Er konnte immer
noch behaupten, sich nur einen Zwieback holen zu wollen.
Als Friedrich die Klinke der Haustür herunterdrückte, war
zumindest diese Ausrede nicht mehr brauchbar. Er schlüpfte
hinaus in die kühle Nacht und huschte die Freitreppe hinab,
über den Gartenweg und durch das Tor auf die Straße. In der
Ferne erklangen vereinzelte Schüsse. Ansonsten war es still,
keine Sirene, keine Flugzeuge, keine Artillerie. Zum Luisenfriedhof
war es noch nicht einmal eine Viertelstunde, einmal
quer durchs Westend und dann über die Spandauer Straße.
Ganz einfach.
Kein Mensch war auf der Straße, nur einmal kam ihm ein
Radfahrer entgegen, dessen Lampe mit einer Verdunkelungskappe
abgedeckt war, sodass nur ein schmaler Lichtschlitz auf
das Pflaster fiel. Es sah aus wie das Auge eines Reptils, das
durch die Dunkelheit schlich. Einen Augenblick später surrte
der Radfahrer vorbei.
Bald darauf wurde am Himmel ein orange flackernder
Lichtschein sichtbar, vor dem sich Bäume und Häuser in
immer schärferem Kontrast abhoben. Da brannte etwas.
Als Friedrich auf die Spandauer Straße trat, sah er auch, was
brannte: Schloss Charlottenburg stand in hellen Flammen,
die aus den Fenstern schlugen und einen Funkenregen in den
Himmel schickten, der aus der Entfernung wie eine langsam
und unstet wabernde Feuersäule aussah. Der Wind zerrte sie
mal in die eine, mal in die andere Richtung, knüllte sie zusammen
und riss sie wieder auseinander. Friedrich hatte noch
nie einen so riesigen Brand gesehen. Es war schauderhaft und
faszinierend zugleich. Gegen den Feuerschein sah er einige Gestalten
über die Straße gehen. Sie schienen sich gar nicht um
das Inferno zu kümmern. Wie abgestumpft musste man sein,
dass man von so etwas keine Notiz nahm?
Plötzlich tauchte neben ihm eine Gestalt auf, die ebenfalls
die Straße überquerte. Im Widerschein des Feuers sah Friedrich
das Profil eines Jungen in seinem Alter. Er wirkte abgehetzt,
blickte sich um, sah Friedrich und verlangsamte seine
Schritte, als wollte er sich seine Eile nicht anmerken lassen.
Dann trafen sich ihre Blicke. Der andere schaute unschlüssig,
ein merkwürdiges Lauern lag in seinem Gesicht, aber es war
nichts Tückisches, sondern Angst. Friedrichs Gedanken rasten.
Keine Uniform, keine Waffe. Und diese Furcht, wie ein
in die Enge getriebenes Tier, das zwischen Flucht und verzweifelter
Attacke schwankte. Das konnte nur ein Deserteur sein.
Vielleicht geht er gleich auf mich los, dachte Friedrich, weil er
denkt, ich liefere ihn ans Messer. Ich muss ihm zeigen, dass ich
nicht gefährlich für ihn bin.
»Die Welt geht unter«, hörte er sich sagen und ein Lächeln
huschte über sein Gesicht. Wie nichtssagend, dachte er.
»Das ist nicht meine Welt«, sagte der andere, und es schien
Friedrich, als ob er auch lächelte. Dann lief der Junge los, überquerte
rennend die Straße und war ein paar Augenblicke später
verschwunden. Lass dich nicht erwischen, dachte Friedrich.
Im selben Moment wurde ihm klar, dass er zum ersten Mal
seit Monaten auf der Straße mit jemandem gesprochen hatte.
Seine Hand fuhr zur Jackentasche. Die Lebensversicherung
knisterte. Dann gab er sich einen Ruck und machte sich wieder
auf den Weg, ohne sich noch einmal nach dem brennenden
Schloss umzublicken.
Die Mauer des Luisenfriedhofs war an einer Stelle durch
einen Bombentreffer eingerissen worden. Friedrich kletterte
über die Trümmer und stand zwischen Grabsteinen und alten
Bäumen, von denen einige schwer in Mitleidenschaft gezogen
waren. Die Bruchstelle eines geborstenen Stamms leuchtete
wie eine klaffende Wunde in der schwachen Glut des Himmels.
Hinter ihm rissen die Wolken auf und gaben einen fast
vollen Mond frei.
Das Familiengrab war leicht zu finden, man brauchte nur
an der westlichen Mauer des Friedhofs entlangzugehen. Friedrich
hörte sein Herz klopfen, während er den
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