Schattenspieler (German Edition)
Friedhofsweg
fast im Laufschritt nahm. Das war kein Ort, an dem man
sich in der Nacht freiwillig lange aufhielt. Nach kaum zwei
Minuten war er am Ziel.
Die Gittertür zu dem kleinen Pavillon war nicht verschlossen.
Friedrich schlüpfte hinein und zog die Tür wieder zu. Er
wartete eine Minute, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Dann
zog er die Streichhölzer aus der Tasche und riss eins davon an.
Im warmen Schein der kleinen Flamme erschienen Marmorplatten
mit Inschriften und ein völlig vertrockneter Blumenstrauß
auf dem Altar. In einer Ecke lehnten ein paar Gartengeräte,
mit denen offenbar das Beet vor dem Grab gepflegt
wurde. Friedrich umrundete den Altar und ging in die Hocke.
Das Streichholz erlosch. Er zündete noch eins an.
Und dann sah er, dass eine der Bodenplatten irgendwie anders
aussah als die anderen. Er brauchte noch ein Streichholz,
um zu erkennen, dass nicht die Platte anders aussah, sondern
der Rand: Jemand hatte den Mörtel aus den Fugen entfernt.
Der Stein war nicht mehr eingemauert, sondern lag nur locker
zwischen den anderen. Friedrichs Finger zitterten vor Aufregung
so stark, dass das Streichholz ihm aus der Hand fiel. Er
langte nach den Gartengeräten und fand eine kurze Hacke. In
der Dunkelheit tastete er nach der Fuge, setzte das Werkzeug
in den Schlitz und stemmte sich gegen das Gewicht. Es ging
einfacher, als er gedacht hatte. Er klemmte die Hacke zwischen
dem Boden und der Platte fest, griff nach dem Stein,
klappte ihn nach oben wie eine Luke und lehnte ihn gegen
den Altar. Zuerst wollte er mit der Hand in die Öffnung greifen,
aber dann war ihm das doch zu unheimlich und er entzündete
noch ein Streichholz.
Etwas glänzte auf. Ein Kasten aus Stahl, vielleicht so groß
wie eine Obstkiste, aber flacher. Friedrich warf das Streichholz
weg, hob den erstaunlich leichten Kasten mit beiden
Händen heraus und stellte ihn auf den Boden. Mit einem
letzten Streichholz vergewisserte er sich, dass sonst nichts in
der Mulde unter der Platte gewesen war. Dann klemmte er
den Kasten unter den Arm und trat den Rückzug über den
Friedhof an.
Schloss Charlottenburg brannte noch immer, doch niemand
schien sich darum zu kümmern. Eine Gruppe vollständig
betrunkener Soldaten hatte sich weiter unten auf der
Straße niedergelassen und ein Feuer entzündet. Sie grölten in
die Nacht hinaus und einer schoss in die Luft. Anfeuerndes
Lachen war die Antwort. Noch ein Schuss fiel. Friedrich überquerte
eilig die Straße und tauchte in das vertraute Wohnviertel
des Westends ein. Keine fünf Minuten später war er wieder
zu Hause und zwängte sich durch die Haustür.
Was nun? Auf dem Weg hatte er zwei Schlösser an dem
Kasten ertastet, die offenbar nicht abgesperrt waren. Sollte er
ihn allein öffnen? Seine Mutter wecken? Bis morgen warten?
Auf leisen Sohlen schlich er ins Wohnzimmer. Er tastete
nach dem Lichtschalter, ohne große Hoffnung, dass der Strom
wieder da sein könnte. Wahrscheinlich hatte eine Bombe irgendeine
Leitung zerfetzt, die jetzt wohl kaum noch jemand
reparieren würde. Er fand den Schalter, drehte daran, erschrak
ein erstes Mal, als das Wohnzimmer im Schein der Deckenlampe
erstrahlte, und ein zweites Mal, als er seine Mutter auf
dem Sofa entdeckte, die dort im Morgenmantel in der Dunkelheit
saß und ihn ohne jede Regung ansah.
»Ich … also …«, stammelte Friedrich.
Seine Mutter lächelte ganz leicht. »Ich hätte es eigentlich
wissen müssen«, sagte sie.
»Und jetzt?«, fragte er. Er wusste nicht so recht, wie er ihren
Gesichtsausdruck deuten sollte. Ein Donnerwetter erwartete
ihn offenbar nicht.
»Jetzt stellst du den Kasten auf den Tisch und machst ihn
auf«, sagte sie.
Friedrich ging wortlos zum Tisch und stellte den Kasten
ab. Er beugte sich darüber und drückte mit beiden Daumen
die Schnappschlösser auf. Etwas Erde rieselte auf die Tischplatte.
Er blickte seine Mutter an. Die sah immer noch mit
ausdruckslosem Gesicht auf den matt glänzenden Stahlkasten.
Friedrich klappte den Deckel hoch. Für einen ganz kurzen
Augenblick befürchtete er, der Kasten könnte leer sein, so
leicht wie er war.
Aber der Kasten war nicht leer.
Als er die letzten Häuser von Spandau hinter sich gelassen
hatte, kam es Leo beinahe unfassbar vor, dass er ungehindert
aus der belagerten Stadt gekommen war. Einmal hatte er sich
in letzter Sekunde in einen Hauseingang drücken können,
bevor eine motorisierte Patrouille vorbeigerollt war, und erst
als die Gefahr vorbei gewesen war, hatte er gemerkt,
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