Schattenspieler (German Edition)
half nichts: Er konnte
nicht hier unten bleiben. Vielleicht holten sie Verstärkung und
kämmten die Keller einen nach dem anderen durch. Vielleicht
waren sie auch schon wieder oben und rannten die Straße entlang,
um ihn draußen abzufangen. Leo war klar, dass er keine
Sekunde verlieren durfte. Und er wusste dank Wilhelms Plan,
dass es zwei Keller weiter einen Ausgang auf einen Hinterhof
gab.
Leo fand den Ausgang auf Anhieb. Gegen den Keller kam
ihm das dämmerige Licht in dem Hof beinahe hell vor. Einige
der angrenzenden Häuser waren nur noch Schutthaufen und
auch die anderen waren übel zugerichtet. Nichts rührte sich
hinter den Fensterhöhlen. Nirgendwo war ein Licht zu sehen,
nur am wolkenverhangenen Himmel flimmerte schwach der
diffuse Widerschein von Bränden und Flakscheinwerfern, begleitet
vom Wummern der Artillerie, das jetzt wieder schärfer
klang. Vor Leo gähnte eine Toreinfahrt, die hinaus auf die Kurfürstenstraße
führte.
Plötzlich merkte er, dass er seit Monaten zum ersten Mal
im Freien stand. Und so sehr sein Herz auch klopfte, so sehr
er fürchtete, jeden Augenblick von hinten gepackt zu werden
– das Gefühl, in jede Richtung loslaufen zu können, war
überwältigend. Er sog die kühle Nachtluft tief ein und schloss
kurz die Augen. Es roch nach Rauch, aber das machte nichts.
Leo schlich durch die Toreinfahrt und spähte auf die Straße.
Nichts regte sich. Weit hinten sah er schemenhaft die Barrikade
aus Möbelwagen, deren Errichtung er mit Wilhelm vom
Fenster aus beobachtet hatte. Dahinter war alles ruhig. Für
einen kurzen Moment glaubte er, die Glut einer Zigarette zu
erkennen, dann kam es ihm vor, als hörte er durch das Grollen
hindurch gedämpfte Stimmen. Vielleicht hockten da ein paar
Männer und warteten auf die Russen. Vielleicht war es aber
auch nur Einbildung. So oder so, dachte Leo, ich muss auf
die andere Seite. Schräg gegenüber sah er die Einmündung
der Bayreuther Straße, dahinter lag in völliger Dunkelheit
der Wittenbergplatz. Spätestens im Straßengewirr von Wilmersdorf
würde sich seine Spur verlieren, falls sie überhaupt
noch nach ihm suchten. Dann einen Haken über Charlottenburg
und danach irgendwie raus aus der Stadt nach Westen.
Es grenzte an Wahnsinn. Aber hier konnte er nicht bleiben.
Wenn alles klappte, hatte er Berlin vor dem Morgengrauen
hinter sich gelassen.
Leo trat aus der Toreinfahrt und zwang sich, nicht zu rennen.
Er schielte zu der Panzersperre hinüber, aber dort bewegte
sich nichts.
Er tauchte in die Deckung der Bayreuther Straße ein. Auch
hier waren die meisten Häuser zerstört und die Fenster verdunkelt,
nur einmal verriet ein schmaler Lichtschlitz, der im
Erdgeschoss durch ein nicht richtig anliegendes Rollo drang,
dass hier noch jemand wohnte. »Wenn das der Luftschutzwart
sieht, gibt's eine Geldstrafe«, murmelte Leo, als wollte er
hören, wie seine Stimme an der frischen Luft klang. Und dann
könnt ihr hinterher behaupten, ihr wart beim Widerstand,
fügte er in Gedanken gehässig hinzu. Seine Augen suchten indessen
wie automatisch die Häuserzeile nach Eingängen und
Durchfahrten ab, in denen er abtauchen konnte, für alle Fälle.
Der unberechenbare Fluchtpunkt, dachte Leo.
Josef Bergmann lenkte das hoppelnde Motorrad über die
Allee. Der Motor röhrte, und das klobige Profil der Reifen
erzeugte Vibrationen, die seine Innereien durcheinanderschüttelten.
Rechts und links zogen die Bäume vorbei und
der Fahrtwind pfiff unter dem Rand des Helms durch und
kühlte Bergmanns Gesicht. Die Brille war inzwischen so staubig,
dass er kaum noch etwas sah. Aber er hatte keine Zeit,
um anzuhalten und die Gläser abzuwischen. Die Rücklichter
des Lastwagens, der sich weit vor ihm dahinschleppte, erahnte
er nur noch. Wenn ich sie verliere, war alles umsonst, dachte
Bergmann. Und erst recht wenn sie merken, dass sie verfolgt
werden. Zum Glück war die Straße so gut ausgebaut, dass er
den Scheinwerfer nicht einzuschalten brauchte.
So fuhr er in völliger Dunkelheit, den Blick durch die
schmutzige Brille starr auf die beiden winzigen roten Lichtpünktchen
vor ihm gerichtet, die manchmal ganz verschwanden,
wenn der Lastwagen hinter einer Hügelkuppe abtauchte.
Dann gab Bergmann jedes Mal Gas, bis er die Lichter wieder
im Blick hatte, um sich anschließend erneut weit zurückfallen
zu lassen.
Zehn Jahre war es her, dass er Deutschland verlassen hatte,
nachdem die letzten seiner Genossen verschwunden waren
oder den Kampf aufgegeben hatten. Während
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