Schattenspieler (German Edition)
ehrlich und erklär es ganz. Er ist wegen Marlene
gegangen. Nur weil sie …«
»Es reicht jetzt«, unterbrach sie ihn und schaute auf. Ihr
Blick war auf einmal streng. »Weck sie nicht auf.«
Eine Weile war es still. Die Kerzenflamme flackerte, und
Friedrich spürte, wie seine Wut verrauchte. Er hatte das Gefühl,
ihr mit seinen Vorwürfen Unrecht getan zu haben. Und
der scharfe Ton, mit dem sie ihm gerade über den Mund gefahren
war, half ihm, sich daran zu erinnern, dass sie ihn und
seine Schwester die ganzen Jahre über aus den Geschichten um
seinen Vater herausgehalten hatte, nicht weil sie zu schwach
war, um irgendeiner Wahrheit ins Gesicht zu blicken, sondern
um ihre Kinder vor Dingen zu schützen, die sie nicht verstanden.
Das war keine Schwäche, sondern Stärke.
Sie fing seinen Blick auf, und er erkannte mehr denn je, dass
es genau so war.
»Damit du es weißt«, sagte sie und blickte ihn an, nicht
mehr streng, sondern sachlich und ohne jede Gefühlsregung.
»Ich habe deinem Vater damals die Koffer vor die Tür gestellt.
Das Haus gehörte schließlich meinem Vater.«
Friedrich schämte sich auf einmal, und sie schien es zu spüren,
jedenfalls stand sie auf, kam um den Tisch und nahm ihn
in die Arme. Er fühlte sich wie ein kleines Kind. Von wegen
Mann im Haus.
Draußen setzte auf einmal wieder das Grollen der Artillerie
ein.
»Was machen wir mit dem Bild?«, fragte er.
»Es gehört uns nicht«, antwortete sie.
Eigentlich waren es gar keine Stiefel, sondern nur noch Überreste
davon, ausgetreten und abgewetzt, mit geplatzten und
dilettantisch wieder zusammengeflickten Nähten, aus denen
schmutzige Lappen quollen. Einer der Stiefel holte jetzt aus
und trat Leo gegen die Schulter. Eine kehlige Stimme sagte
etwas Unverständliches in einem feindseligen Ton.
Leo blinzelte, sammelte sich und blickte nach oben. Zwei
matschfarbene Hosenbeine, darüber eine Art Kittel, unförmig
und unordentlich mit einem Gürtel voller Patronentaschen
zusammengehalten. Und dann die Mündung einer Maschinenpistole,
die auf ihn gerichtet war. Das Gesicht darüber war
nur undeutlich zu erkennen, weil die Tür des Schuppens offen
stand und das Tageslicht von hinten hereinflutete. Ein Russe.
Der Fuß stieß ihn noch einmal an. Wieder schnauzte der
Soldat ihn an, ein Wort nur, es klang scharf wie ein Befehl.
Leo kämpfte sich aus den Decken und versuchte, sich aufzurappeln.
Sein Körper fühlte sich bleischwer an, aber in seinem
Kopf rasten die Gedanken. Keinen Fehler machen, dachte er.
Der andere beugte sich vor, packte ihn am Kragen und zerrte
ihn hoch. Ein dunkles Augenpaar in einem unrasierten, mageren
Gesicht funkelte Leo an. Dann drehte der Russe den Kopf
zur Tür, ohne ihn loszulassen, und brüllte ein paar Sätze nach
draußen. Eine Stimme antwortete auf Russisch. Der Soldat
rief etwas zurück, dann riss er Leo herum und stieß ihn vor
sich her ins Freie, während die Kirchenglocke ein paar letzte
Schläge von sich gab.
Draußen schien die Morgensonne, der Himmel war strahlend
blau. Das Licht blendete und Leo nahm alles wie durch
einen dichten Schleier wahr. Er stolperte auf die Dorfstraße,
während der Soldat ihn mit dem Lauf seiner Waffe weiter vor
sich her schubste. Schräg gegenüber dem Schuppen war eine
Hofeinfahrt, dann folgten ein paar verklinkerte Häuser, die
direkt an der Straße standen, dann wieder ein Bauernhof und
schließlich verbreiterte sich die Straße zu einem kleinen Platz,
der von Bäumen gesäumt war. In der Mitte des Platzes stand,
halb verdeckt, die Kirche mit ihrem spitzen Turm, von dem
die letzten Glockentöne wie dünne Fäden in der Luft hingen,
bevor sie abrissen.
Am Straßenrand parkten Lastwagen und Panzer mit roten
Sternen und großen, aufgepinselten Nummern. Leo traute
sich kaum, nach rechts und nach links zu blicken. Aus den
Augenwinkeln sah er, dass auf den Fahrzeugen Soldaten saßen,
die ihn grinsend musterten. Aus einigen der Häuser drang Geschrei
und Gepolter. Offenbar wurden sie gerade durchsucht.
»Dawai!«, schrie die wütende Stimme hinter ihm immer,
gefolgt von Stößen mit der Maschinenpistole. Leo fragte sich,
was man mit ihm vorhatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass es das
Klügste war, den Mund zu halten, bis er gefragt wurde. In den
letzten zwei Jahren hatte er gelernt, vorsichtig zu sein. Erinnerungsfetzen
flogen vorbei. Die Zeit im Keller. Wilhelms Wohnung.
Die Albträume von gesichtslosen Gestalten, die ihn aus
dem Schlaf rissen und wegbrachten. Und jetzt wurde
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