Schattenspieler (German Edition)
winzigen, schießschartenartigen
Fenstern: ein Hochbunker mit einer Seitenlänge von vielleicht
dreißig Metern.
Die Türen des Bunkers standen offen. Davor war eine
Wache aus sowjetischen Soldaten postiert. Im Halbdunkel
des Eingangs wartete Sirinow mit Marlene.
Der Oberst war in bester Laune und erklärte nach der Begrüßung,
es sei ihm ein Vergnügen, sein Versprechen an Parks
wenigstens zur Hälfte einlösen zu können. Er bitte allerdings
darum, den Besuch nicht als Teil eines offiziellen Programms
zu betrachten, sondern als persönliche Gefälligkeit.
Dann setzte er sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Es
ging durch einen kurzen Korridor in einen lang gestreckten
Vorraum, von dem rechts und links Treppen und weiter hinten
eine Reihe von Räumen abzweigte. Leo musste unwillkürlich
an den Stollen unter der Möbelfabrik denken.
Friedrich hatte offenbar den gleichen Gedanken. »Wenigstens
liegen hier keine Leichen rum«, murmelte er.
Sie nahmen den rechten Treppenaufgang und stiegen im
Licht nackter Glühbirnen in den zweiten Stock. Schließlich
standen sie vor einer schweren Stahltür, die in einen großen
Raum führte. Neben dem Eingang hing ein Schild: »Schutzraum
für 200 Personen. Ruhe bewahren! Nicht rauchen!«
Als Leo eintrat, traute er seinen Augen nicht.
An die Wände des Bunkerraums waren auf gepolsterten
Holzgestellen Dutzende von verschieden breiten Marmorplatten
gelehnt, die ein mannshohes, monumentales Hochrelief
trugen. Drei weitere Doppelreihen von Platten standen in der
Mitte.
Der Kontrast zwischen den grauen, schartigen Betonwänden
und den fein herausgearbeiteten Marmorbildern hätte
nicht größer sein können. Obwohl viele Teile abgebrochen
waren und zwischen den einzelnen Szenen ganze Sequenzen
fehlten, war der Gesamteindruck überwältigend. Leo sah
nackte Körper in heroischen Posen, kämpfend ineinandergewunden,
manche am Boden liegend, einige angreifend und
andere zur Flucht gewandt. Sie würgten und schlugen sich,
trampelten übereinander hinweg, holten aus, parierten, kauerten
und rangen miteinander. Zwischen den Figuren wanden
sich Schlangen mit geschuppten Körpern. Ein Löwe trug eine
Frau mit wallendem Gewand aus dem Kampfgeschehen fort.
Als alle eingetreten waren, wandte Sirinow sich der Gruppe
zu. Aus seinen Augen funkelte ein kaum noch zu bändigender
Triumph, den er durch betonte Lässigkeit überspielte.
»Meine Herren: der Pergamonaltar.«
Major Parks stieß hörbar die Luft aus. Hunt schürzte die
Lippen, während Kugler ihm etwas ins Ohr murmelte.
Nach ehrfürchtigem Zögern ging die Gruppe auseinander
und verteilte sich im Raum, um die Figuren zu begutachten.
Friedrich legte Marlenes Hand auf das Relief. Sie folgte tastend
dem geringelten Körper einer Schlange, die nach einer
vorwärtsstürmenden Heroine schnappte. Marlene war von
der Skulptur sofort begeistert.
Parks betrachtete eine besonders verschlungene Figurengruppe
und wanderte dann weiter die Reihe entlang.
»Donnerwetter, mein lieber Oberst«, sagte er anerkennend.
»Jetzt verstehe ich, warum Sie unseren Sektor erst so spät geräumt
haben.«
»Es ist etwas aufwendiger, als ein paar Drehbänke einzupacken«, lächelte Sirinow.
Parks betastete die Polsterung. »Gute Arbeit. Und ich
dachte, Sie hätten ihn längst gegen Uhren und Fahrräder verscherbelt.«
Leo wanderte langsam an dem Fries entlang und ließ seine
Hand über den kühlen, körnigen Marmor gleiten. Wilhelm
folgte ihm, sagte aber nichts. Der Eindruck des monumentalen
Kunstwerks war so übermächtig, dass es ihm offenbar die
Sprache verschlagen hatte.
Marlene tastete sich bedächtig vorwärts. Vielleicht konnte
sie das Erlebnis besser genießen als alle anderen, eben weil
sie immer nur das erfassen konnte, was sie gerade unter den
Händen spürte. Leo dagegen erwischte sich immer wieder
dabei, wie sein Blick hin und her sprang, ungeduldig, fast
gierig. Hinter sich hörte er Kugler und Hunt halblaut auf
Englisch reden. Als er sich nach den beiden umblickte, hatte
er den Eindruck, dass der Dolmetscher den Engländer vergeblich
von der Bedeutung dieses Meisterwerks zu überzeugen
versuchte. Plötzlich trafen Kuglers Augen Leo, während er
weiter auf den offensichtlich gelangweilten Hunt einsprach.
Sein Blick war unergründlich: abwesend und taxierend zugleich.
Hunt hatte indessen wohl gänzlich das Interesse an
den Ausführungen des Dolmetschers verloren und blickte auf
die Uhr. Kugler brach seine Erklärungen ab und machte
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