Schattenspieler (German Edition)
Bahnsteigs
zum Stehen gekommen. Sie sprangen auf das Schotterbett
und stapften über eine Kraterlandschaft aus Bombentrichtern
und aufgerissenen Gleisen, die wie Dornengestrüpp
in alle Himmelsrichtungen wiesen.
»Jetzt schau dir das an!«, murmelte Friedrich.
Leo folgte seinem Blick. Halb verdeckt von ihrem Zug
stand eine Lokomotive – stand im wahrsten Sinne des Wortes,
und zwar auf dem Kopf. Eine Bombenexplosion musste
sie mit solcher Wucht erwischt haben, dass das Hinterteil in
die Luft geschleudert worden war. Ein paar britische Soldaten
standen davor und betrachteten die merkwürdige Skulptur.
Einer machte ein Foto.
Wilhelm ging voran. Sie stiegen weiter über das Gleisbett,
umrundeten Krater und wichen verbogenen Schienen aus.
Wilhelm trug den Koffer, den er und Leo in der Kurfürstenstraße
immer in den Luftschutzkeller mitgenommen hatten.
Den Bahnhof sahen sie nur von der Rückseite her. Er war
völlig verwüstet, wie auch die Straßenzüge auf der anderen
Seite der Gleise.
Nach einem zehnminütigen Fußmarsch waren sie am Ziel.
An einer Kreuzung ragte ein wuchtiger, schlossartiger Bau in
den Himmel. Rotes Ziegelmauerwerk wurde flankiert von
ockerfarbenen Sandsteineinfassungen. Die meisten Fenster
waren entweder noch intakt oder schon repariert, einige wenige
waren noch mit Spanplatten vernagelt. Oberfinanzdirektion stand über das Portal gemeißelt. Doch das war offenbar
Geschichte: Neben dem Eingang hing ein Schild, das das Gebäude
als Sitz der britischen Militärregierung auswies.
Der Posten am Eingang grüßte Wilhelm mit der Hand am
Mützenschirm. Im Inneren des Gebäudes herrschte reger Betrieb.
Schreibmaschinengeklapper hallte durch die Flure. Ein
Telefon klingelte schrill. Männer und auch einige Frauen in
britischen Uniformen schwebten geschäftig hin und her, Ordner
und Mappen unter dem Arm.
Wilhelm führte sie, dann und wann einen der Vorbeieilenden
grüßend, in den zweiten Stock. Auch hier herrschte
die bürokratische Geräuschkulisse aus Schreibmaschinen, Telefonen
und Stimmen, die meistens auf Englisch in knappem
Befehlston Anweisungen in irgendwelche Hörer blafften.
Sie betraten ein Büro, dessen Wände mit Aktenschränken
zugestellt waren. In der Mitte stand ein Tisch mit vier Holzstühlen.
Auf eine einladende Geste von Wilhelm hin nahmen
sie Platz.
»Möchtet ihr einen Bohnenkaffee?«, fragte Wilhelm. »In
dieser Hinsicht ist das hier das reinste Paradies.«
»Ich nehm gerne einen«, sagte Friedrich und Leo schloss sich
ihm an. Wilhelm verschwand kurz.
Die Schränke waren aus wuchtigen Schubladen aufgebaut,
die mit kleinen Etiketten beschriftet waren. Auf dem Tisch
standen eine Leselampe und eine Lupe, die mit einem kleinen
Schwenkarm an einem Sockel befestigt war. Ein typischer Archivraum.
Wilhelm kam mit drei Tassen zurück. Er setzte sich ebenfalls,
nahm einen Schluck Kaffee und kam dann zur Sache.
»Ich werde euch jetzt die Akte über Sommerbier zeigen.
Schaut sie euch in Ruhe an, vor allem du, Leo. Manchmal
genügt ja ein Stichwort, und man erinnert sich an Details, die
man vorher für unwichtig gehalten hat. Irgendein Satz, eine
Bemerkung, ein Name, den Sommerbier in diesem Schloss
erwähnt hat. Jede Einzelheit kann wichtig sein. Was wir leider
nicht haben, ist ein Foto von Sommerbier. Wir jagen ein echtes
Phantom.«
Leo versuchte, Sommerbier ein Gesicht zu geben. Es war
merkwürdig, sich diesen Mann, über den sie fast jeden Tag
redeten, immer nur als den Schatten vorzustellen, den Leo
gesehen hatte. Er war groß und breitschultrig gewesen, das
war alles, was er von dem Türspalt aus hatte mitbekommen
können. Leo war noch nicht einmal sicher, ob er Sommerbiers
Stimme erkennen würde. Seine Heiserkeit hatte sich
eher nach einer starken Erkältung angehört. Zu Statur und
Stimme hätte ein kantiges Gesicht gepasst, nicht grob, aber
kalt und entschlossen wie auf den Werbeplakaten für die Waffen-
SS: ein Gesicht, das mehr Angst einflößte als jede noch so
grobe Schlägervisage.
Wilhelm lehnte sich über seine Stuhllehne nach hinten und
zog gezielt eine Schublade auf. Mit einem satten Geräusch
rollte sie gegen den Anschlag. Ein Griff und Wilhelm hatte
gefunden, was er suchte.
Das Dossier war nicht besonders dick. Hinter dem Deckblatt
war ein Bericht auf Englisch abgeheftet, der Sommerbiers
Karriere, soweit bekannt, noch einmal zusammenfassend
nachzeichnete. Wilhelm übersetzte. Es folgten Kopien
aus verschiedenen Akten. Die einzelnen Schriftstücke standen
in
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