Schattenspieler (German Edition)
Ohr.
Leo überlegte kurz. Ihm war nicht danach, seine wahre Geschichte
zu erzählen oder auch nur anzudeuten. Also sagte er
nur: »Ich wohne bei ihm. Also, bei seiner Mutter.«
»Aha. Die heißen Häck, oder?«
»Ja«, sagte Leo zögernd.
»Und Friedrichs Vater?«, fragte Kugler weiter, während sie
sich um einen Treppenabsatz wanden. »Was macht der?«
»Der ist gefallen«, sagte Leo und stutzte. »Warum fragen
Sie?«
»Nicht so wichtig.«
Schließlich tauchte hinter einer Biegung ein schwacher
Lichtschimmer auf. Die Konturen von Marlene und Friedrich
wurden sichtbar. Hände wurden losgelassen. Kugler klopfte
seinen Anzug glatt und lächelte Leo zu.
Als sie wieder vor dem Tor des Bunkers standen, ergriff Leo
ein merkwürdiges Gefühl. Es schien, als hätte diese kurze Zeitspanne
in der Finsternis eine Vertraulichkeit zwischen ihnen
geschaffen, die nun, im gleißenden Licht der Nachmittagssonne,
mit einem Mal fast peinlich war.
Parks ließ sich von einem der Wachsoldaten Feuer geben
und nahm ein paar Züge. Er grinste Sirinow an.
»Mein lieber Oberst«, sagte Parks. »Ihr Sinn fürs Dramaturgische
ist einfach unglaublich. Das war die zauberhafteste
Vorstellung, die ich je erlebt habe. Und dann der Knalleffekt
mit dem Licht. Ich bin mir schon jetzt nicht mehr sicher, ob
das wirklich der Pergamonaltar war.«
Sirinow zeigte ein feines Lächeln. »Wenn Sie jemand fragt,
haben Sie das natürlich nicht gesehen.«
»Wird mir nicht schwerfallen. Nichts gesehen zu haben ist
in diesem Land ja praktisch Volkssport.«
Sirinow warf einen Blick in die Runde und gab den Soldaten
am Eingang des Bunkers einen Wink, die schweren Stahltüren
zu schließen.
Mit einem lässigen Gruß verschwand der Oberst danach in
Richtung der Autos. Parks, Hunt und Kugler verabschiedeten
sich ebenfalls und folgten ihm. Wilhelm, Leo, Friedrich und
Marlene blieben zurück.
Wilhelm blickte nachdenklich auf den Bunker. Nichts deutete
darauf hin, was sich in seinem Inneren verbarg.
Er holte Luft. »Ich fahre morgen zurück nach Münster«,
sagte er. »Vielleicht wäre es nicht verkehrt, wenn ihr mich begleiten
würdet.«
Die Zugfahrt nach Münster zog sich in die Länge. Begleitet
vom monotonen Rattern der Schwellen fuhren Wilhelm, Leo
und Friedrich dahin und mussten immer wieder anhalten, um
auf Nebengleise auszuweichen, damit entgegenkommende
Züge passieren konnten. Mehrmals mussten sie an zerbombten
Bahnhöfen umsteigen.
Endlose Ketten von Lorenwagen und Güterwaggons
rauschten an den Abteilfenstern vorbei, ab und zu auch Personenzüge,
eingehüllt in die schwarzgrauen Dampfwolken der
heulenden Lokomotiven. Die sommerliche Landschaft zog
dahin, unzerstörte Dörfer huschten vorbei und Bauern zuckelten
mit Leiterwagen über Landstraßen. Es war Mitte Juli und
die Erntezeit hatte gerade begonnen. Ketten von Frauen in
bunten Kitteln arbeiteten sich mit Sensen durch das Getreide,
andere banden Garben zusammen, die wie kleine Armeen aus
gelben Puppen auf den Feldern standen. Vom gerade zurückliegenden
Krieg war hier nichts zu ahnen.
Wenn sie Städte passierten, holte die Wirklichkeit sie wieder
ein. Überall bot sich, wenn auch in kleinerem Maßstab,
das gleiche Bild wie in Berlin: Schutthaufen und Menschenketten,
die sie abtrugen, Ziegelstapel, Trümmerbahnen und
das vielstimmige Ping-Ping der Hämmer, die Steine von Mörtel
befreiten. Die Nacht verbrachten sie in einem Hotel in
Braunschweig.
Je näher sie Münster kamen, desto mehr füllte sich der Zug
mit Menschen, die Taschen, Säcke und Kartons schleppten.
Auf jedem kleineren Bahnhof stiegen weitere zu, offenbar
Hamsterer, die sich auf den Dörfern mit Lebensmitteln eingedeckt
hatten. Bald war auch ihr Abteil vollgestopft mit Leuten,
die sich gegenseitig auf die Füße traten oder zwischen den
Stehenden auf Koffern hockten. Die wenigsten redeten. Ab
und zu warfen sie verstohlene Blicke auf Wilhelms britische
Uniform. Es roch nach Tieren, Getreide und Staub.
Am späten Nachmittag rollte der Zug dann endlich in
Münster ein, verlangsamte und kam ruckend und pfeifend
zum Stehen.
»Alles aussteigen!«, rief eine unfreundliche Stimme von
draußen.
Sie nahmen ihre Koffer und zwängten sich aus dem Abteil
auf den Gang, wo die Hamsterer ungeduldig schubsten und
drängelten. Einige fluchten leise, weil jemand die Tür nicht
schnell genug aufbekam. Schließlich klappte es doch und die
schlecht gelaunte Menschenmasse quoll hinaus.
Der Zug war etwa hundert Meter vor dem Ende des
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