Schattenspur
Bluse. Sie hatte ihn zu oft abgelegt, war zu oft ohne Schutz gewesen, obwohl Großmutter sie davor gewarnt hatte. Sie hatte sich zu sicher gefühlt, hatte geglaubt, hier im fernen Savannah außer Gefahr zu sein; weitgehend zumindest. Sie hatte sich geirrt.
Louis hatte sie gefunden.
*
Alma lauschte dem Flüstern der Flussgeister, nachdem Kianga sie verlassen hatte. Sie erzählten ihr nichts Neues. Sie hatte Kia vorhin nicht noch mehr beunruhigen wollen und ihr deshalb verschwiegen, dass die Loas ihr durch das Fa noch etwas offenbart hatten, das zu einer Bedrohung werden könnte. Die Frage war, für wen. Es mochte vielleicht nichts mit Kia zu tun haben – oder alles.
Alma versuchte sich einzureden, dass sie Kia gut genug geschützt hatte. Schließlich lebte sie seit zehn Jahren in Savannah. Wenn man sie hätte au f spüren können, wäre das schon lange geschehen. Seine Macht reichte weit. Selbst von Haiti aus hätte er nicht mal ein Jahr gebraucht, um sie zu finden, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Außerdem wusste er nicht, dass Alma in Savannah wohnte. Die einzige Adresse, die er von ihr haben könnte, war die in New Orleans, und dort lebte sie schon lange nicht mehr. Alma hatte ihre Spur gut verwischt. Sie war unzählige Male umgezogen, hatte noch dreimal geheiratet und den Nachnamen ihres letzten Mannes, John Renard, beibeha l ten, von dem sie inzwischen ebenfalls geschieden war. Nur ihr Fleisch und Blut hätte sie finden können, denn sie hatte in New Orleans eine subtile Fährte hinterlassen, die niemand sehen oder verstehen konnte außer ihrer T o chter Saba und Kia.
Alma hatte gehofft, dass Saba sie finden und zu ihr zurückkehren würde. Im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie schon vor deren Heirat gewusst, dass ihr Mann sie nur benutzen würde. Dass er Saba überhaupt nur heiraten wol l te, weil sie der Blutlinie der alten Priester entstammte. Aber wenn es um die Liebe geht, hörten Kinder nahezu nie auf ihre Eltern. Saba hatte ihren Eige n sinn bedauerlicherweise mit dem Leben bezahlt. Wenigstens hatte sie genug Verstand besessen, Kia beizeiten die geheimen Zeichen zu lehren, damit sie die Spur zu ihrer Großmutter finden konnte.
Für Alma war es schon ein schwarzer Tag gewesen, als Saba ihrem Mann mit ihrer neugeborenen Tochter nach Haiti gefolgt war, dessen Schwärze nur noch von dem Tag übertroffen wurde, an dem sie von Sabas Tod erfahren hatte. Derselbe Tag, an dem Kia sie gefunden hatte, die vor ihrem Vater g e flüchtet war, der nicht nur der Mörder ihrer Mutter war. Er hatte Kia obe n drein zwingen wollen, den Erben des Bizango-Kults zu heiraten, der die eine Hälfte Haitis beherrschte, um auf diese Weise durch Kia seine eigene Macht von der anderen Hälfte aus über das ganze Land zu etablieren. Da Alma und Saba Kia aber unmittelbar nach ihrer Geburt heimlich einer anderen Gottheit geweiht hatten, besaßen die Petro , die finsteren Götter, die ihr Vater und der ihr zugedachte Ehemann verehrten, keine Macht über sie.
Konnte es trotzdem sein, dass ihr Vater oder der Mann, den sie nach se i nem Willen heiraten sollte, sie gefunden hatte? Besonders Letzterer würde sie nicht aufgeben, da sie ihm versprochen war und er sie deshalb als sein Eige n tum betrachtete. Doch auch Kia lebte unter dem Namen Renard und benut z te den meisten Menschen gegenüber ihren zweiten Vornamen. Auch ihr Fü h rerschein war auf Joy Renard ausgestellt. Somit gab es weder eine namentl i che Verbindung zu ihrem Vater noch zu dem Mädchennamen ihrer Mutter. Dazu das Amulett, das Alma ihr angefertigt hatte … Eigentlich war es u n möglich. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Sie brauchte Gewissheit.
Sie stand auf, stellte den Schaukelstuhl in den Laden und ging in das Zi m mer, in dem sie ihren Kunden Lebensberatung gab. Sie nahm die Knochen aus dem Beutel, in dem sie schliefen, hauchte ihren Atem darauf und schü t telte sie in der Hand, bis sie spürte, dass der rechte Moment gekommen war, sie fallen zu lassen. Sie verteilten sich auf dem roten Tuch, das sie als Unterl a ge benutzte. Alma erschrak. In der Hoffnung, dass das Orakel sich dieses eine Mal geirrt hätte, nahm sie die Knochen erneut in die Hand, schüttelte sie gut durch und warf sie. Und noch ein drittes Mal.
Das Ergebnis blieb dasselbe. Etwas war schiefgegangen, und Kia befand sich in großer Gefahr. Verdammt, sie hätte das Orakel früher befragen sollen. Es hätte sie gewarnt. Aber sie war so sicher gewesen,
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