Schattenstunde
leer.«
Raes Finger schlossen sich um meinen Arm. »Aber Derek kommt doch nicht mit, oder? Gehen wir einfach.«
»Hat er gestern Abend noch irgendwas zu dir gesagt?«, flüsterte ich.
Simon schüttelte den Kopf. »Er hat geschlafen. Ich hab ihn nicht aufgeweckt.«
»Vielleicht ist er im Bad«, flüsterte Rae. »Kommt schon, Leute, wir müssen …«
»Ich hab in den Bädern nachgesehen. Und dem leeren Schlafzimmer. Und der Küche. Irgendwas stimmt nicht. Irgendwas ist passiert.«
»Aber wenn ihm etwas passiert wäre, hätte er dir dann die Uhr hingelegt? Vielleicht …«
Ich versuchte, eine glaubwürdige Erklärung zu finden, und kämpfte zugleich gegen die aufsteigende Panik an, die mir mitteilte, dass es keine gab. »Vielleicht fürchtet er, wir würden im letzten Moment noch versuchen, ihn mitzuschleifen, und jemanden aufwecken?«
»Und da wir’s gerade davon haben …«, sagte Rae mit einem vielsagenden Blick zur Decke hinauf.
Simon und ich sahen einander an. Mir war klar, so logisch meine Erklärung auch klingen mochte, Derek musste wissen, dass Simon nicht gehen konnte, ohne sich vorher zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war.
»Leute …«, begann Rae.
»Ihr zwei, geht«, sagte Simon. »Ich suche …«
»Nein«, sagte ich, »ich mach’s.«
»Aber …«
Ich hob eine Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Wer hat etwas davon, wenn ich hier rauskomme und du nicht? Es ist dein Dad. Du weißt, wie du ihn finden kannst.«
Simons Blick glitt zur Seite.
»Was?« Rae wandte sich an mich. »Vergiss Derek, Chloe. Er kommt nicht mit, weißt du noch? Er kommt zurecht. Wir müssen los.«
»Ich finde ihn und komme dann nach«, sagte ich. »Wir treffen uns hinter der Fabrik, okay?«
Simon schüttelte den Kopf. »Ich habe die Verantwortung für ihn.«
»Im Moment hast du die Verantwortung dafür, deinen Dad zu finden. Du kannst Derek – und mir – nicht helfen, solange du ihn nicht gefunden hast.«
Schweigen.
»Okay?«
Seine Brauen zogen sich zusammen, und ich merkte ihm an, dass es
nicht
okay war, dass er den Gedanken verabscheute, sich einfach so davonzumachen.
»Ihr müsst los«, sagte ich.
Er griff nach meiner Hand, schloss die Finger um meine und drückte sie. Ich bin mir sicher, dass ich so rot wurde, als hätte er mich gepackt und geküsst.
»Sei vorsichtig«, sagte er.
»Bin ich. Ich finde ihn, und dann finde ich euch.«
»Ich warte.«
Simon nahm meinen Rucksack, denn er hätte mich rettungslos verraten, wenn ich mit ihm erwischt worden wäre. Und wenn ich ihn irgendwo deponiert hätte, hätte ich vielleicht keine Gelegenheit mehr gehabt, ihn zu holen.
Wir hatten den Schließcode der Tür – Derek hatte ihn uns, zusammen mit Anweisungen und handgezeichneten Plänen, aufgeschrieben. Ich hätte das als Hinweis verstehen können, dass er von Anfang an nicht vorgehabt hatte, anwesend zu sein, wenn wir gingen. Aber ich wusste, dass Derek einfach Derek war und nichts dem Zufall überließ.
Warum also war er verschwunden und riskierte so, dass Simon nicht ging? Mein letzter Blick auf Derek fuhr mir durchs Hirn: in der Schlafzimmertür, schweißgebadet und kaum in der Lage, klar zu sehen. Und plötzlich wusste ich, was passiert war.
Wenn Simon ihn so zu sehen bekam, würde er wissen, wie übel es Derek ging. Und wenn Simon wusste, wie schlecht es Derek ging, würde Simon hierbleiben. Überhaupt keine Frage. Also hatte Derek das Einzige getan, was er tun konnte. Er hatte sich irgendwo verkrochen, den Wecker gestellt und darum gebetet, dass Simon gehen würde. Eine geringe Aussicht im Vergleich zu gar keiner.
Aber wo war er? Ich ging als Erstes in den Keller hinunter. Die Tür war geschlossen, das Licht aus, aber wenn er sich hier versteckte, dann war das zu erwarten. Der Waschmaschinenraum war leer. Die Tür zum Abstellraum war abgeschlossen.
Als wir letzte Nacht unseren Rundgang gemacht hatten, hatte er die kalte Luft nur so aufgesogen. Als wir zurückkamen, schien sein Fieber verflogen zu sein, und ich hatte es darauf geschoben, dass das Tylenol zu wirken begann. Aber vielleicht war es ja auch die kalte Luft gewesen. Wenn er das Gefühl gehabt hatte, schnell eine Besserung erreichen zu müssen, war er vielleicht einfach ins Freie gegangen in der Hoffnung, sich weit genug zu erholen, um Simon verabschieden zu können.
Ich ging hinaus auf die hintere Veranda. Die Mondsichel war hinter Wolken verschwunden, und es war so finster wie oben im Flur. Ich konnte das Schimmern
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