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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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sah ich, dass es sprießendes Haar war, das durch die Haut brach und dann wieder unter der Oberfläche verschwand. Und seine Hände. Seine Finger waren lang und knotig wie Klauen und gruben sich in die Erde, während sich sein Rücken nach oben krümmte.
    In meiner Erinnerung hörte ich Simon sagen: »Typen wie Derek haben … optimierte Körper, so könnte man’s vielleicht nennen. Mehr Körperkraft, das hast du selbst gesehen. Auch schärfere Sinne. Solche Sachen eben.«
    Solche Sachen eben.
    Und dann meine eigene Stimme, die unbekümmert fragte: »Ich werde nicht auch noch in Werwölfe oder Vampire reinrennen, oder?«
    Und Simons Antwort, als er lachend gesagt hatte: »Das wäre mal cool.«
    Es war gar keine Antwort gewesen. Er hatte es vermieden, eine Auskunft zu geben, die er nicht geben konnte.
    Derek krümmte sich. Sein Kopf flog hoch, die Kiefer zusammengebissen. Ein fürchterliches stöhnendes Aufheulen zischte durch seine Zähne. Dann sackte sein Kopf wieder ab, und Speichelfäden troffen ihm aus dem Mund.
    »Derek?«
    Er würgte, sein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Als es nachließ, schob ich mich näher heran. Er drehte den Kopf zur Seite.
    »Kann ich irgendwas tun?«
    Eine Stimme in meinem Kopf sagte: »Na sicher. Renn um dein Leben!«
    Aber es war eine leise Warnung, nicht einmal wirklich ernst gemeint, denn ich erwog gar nicht, wegzurennen. Das hier war kein Kinomonster. Selbst jetzt, als ihm Haare durch die Haut seiner Arme sprossen und seine Finger sich zu Klauen verknoteten, er den Blick abwandte und mich anknurrte, ich solle verschwinden – selbst jetzt wusste ich, was da auch gerade passierte, er war immer noch Derek.
    »Kann ich irgendwas tun?«
    Eine wirklich selten dämliche Frage. Ich konnte mir die Reaktion vorstellen, die sie mir zu jedem anderen Zeitpunkt eingetragen hätte – die gekräuselte Lippe, das Augenverdrehen.
    Aber nach einem weiteren halbherzigen »Geh weg« kauerte er einfach dort, den Kopf zur Seite gedreht, schaudernd, jeder Atemzug ein Rasseln, das in einem zitternden Geräusch endete.
    »Nicht.« Seine Finger krallten sich in den Boden, seine Arme verkrampften und entspannten sich dann wieder. »Weggehen.«
    »Ich kann dich nicht hier lassen. Wenn es irgendwas gibt, das ich …«
    »Nein.« Ein scharfes Atemholen, dann stieß er die Worte hervor: »Geh nicht weg.«
    Sein Kopf hob sich, eben weit genug, dass ich ein vor Entsetzen aufgerissenes grünes Auge sehen konnte.
    Dann wurden seine Arme und Beine starr, sein Rücken fuhr nach oben, als er wieder zu würgen begann. Erbrochenes spritzte ins Gras, ein neuer Schwall mit jedem neuen Zucken. Der scharfe Geruch erfüllte die Luft.
    Und ich saß da und tat gar nichts, weil es nichts gab, das ich hätte tun können. Mein Hirn haspelte Möglichkeiten herunter und tat jede davon in dem Moment ab, in dem sie sich anbot. Ich schob mich näher heran und legte ihm eine Hand auf den Arm, spürte, wie das grobe Haar sich durch fiebrig heiße Haut bohrte, die zuckte und pochte. Das war alles, was ich tun konnte – bleiben und ihn wissen lassen, dass ich noch da war.
    Und schließlich ein letztes Würgen, ein letzter Schwall Erbrochenes, der den einen Meter entfernten Holzzaun mit Flüssigkeit sprenkelte, und es war vorbei. Es hörte ganz einfach auf.
    Die Muskeln unter meiner Hand wurden still, das grobe Haar zog sich zurück. Langsam entspannte Derek sich. Sein Rücken sank ab, seine Hände lockerten ihren Griff in die Erde. Er kauerte dort und keuchte. Sein Haar hing ihm ums Gesicht.
    Dann sackte er auf die Seite und legte die Hände vor sein Gesicht. Die Finger immer noch lang, missgestaltet, die Nägel dick wie Klauen. Er rollte sich auf der Seite zusammen, zog die Knie an die Brust und stöhnte.
    »Soll ich …? Simon? Soll ich Simon holen? Würde er wissen, was man da …«
    »Nein.« Das Wort klang heiser und guttural, als seien seine Stimmbänder nicht die eines Menschen.
    »Es ist vorbei«, sagte er nach einer Pause. »Glaube ich. Ziemlich sicher.« Er rieb sich das Gesicht, das er immer noch mit den Händen bedeckte. »Hätte nicht passieren sollen. Noch nicht. Noch jahrelang nicht.«
    Mit anderen Worten, er wusste genau, was er war, er hatte einfach nicht mit der … Verwandlung gerechnet, bevor er nicht älter war. Ich spürte ein Aufflackern von Ärger, dass er mich getäuscht hatte, Simon dazu gebracht hatte, dass er mich anlog. Aber ich konnte meinen Ärger nicht aufrechterhalten, nicht nach dem, was

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