Schattenstunde
eins, das der Normalität näherkam, als ich ihr jemals wieder kommen würde.
Aber jetzt beobachtete ich Rae, die auf dem Bauch lag, die Streichhölzer in der Hand, und sich bemühte, eins mit den Fingerspitzen anzuzünden. Ihre Zungenspitze rutschte vor Entschlossenheit, die an Verzweiflung grenzte, zwischen ihren Zähnen heraus, und ich erkannte, wie sehr sie sich eine paranormale Begabung wünschte. Ich hatte eine, und ich hatte so wenig für sie übrig, dass ich sie ihr mit Vergnügen abgetreten hätte.
Es war wie damals in der Schule, wenn die anderen Mädchen sich nach irgendwelchen Designerjeans verzehrten und die Babysitterstunden zählten, die sie noch absolvieren mussten, bevor sie sich ein Paar kaufen konnten. Und ich hatte in meinen dabeigesessen, vier weitere davon zu Hause im Schrank, die mir nicht mehr und nicht weniger bedeuteten als irgendeine Kaufhausjeans. Ich hatte ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich das, was ich hatte, nicht würdigen konnte.
Aber Nekromantie war nicht das Gleiche wie teure Jeans, und ich war mir ziemlich sicher, dass das Leben ohne sie besser verlaufen wäre. Mit Sicherheit einfacher. Andererseits, wenn ich morgen aufwachen würde und nicht mehr mit den Toten reden könnte, wäre ich dann enttäuscht?
»Ich glaube, es wird warm«, sagte Rae, während sie den Streichholzkopf mit zwei Fingern umfasste.
Ich kroch aus dem Bett. »Zeig mal.«
»Nein.« Sie wich zurück. »Erst wenn ich mir sicher bin.«
War Rae eine Halbdämonin? Derek hatte gesagt, die könnten Dinge mit bloßen Händen verbrennen. In ihrem Alter hätte Rae in der Lage sein sollen, das Streichholz mühelos zu entzünden. Andererseits hatte er auch noch nie davon gehört, dass ein Nekromant eines Morgens aufwachte und schlagartig überall Geister sah. In der Regel war es eine fließende Entwicklung.
Aber war das nicht sowieso typisch für Entwicklungsvorgänge? In einem Buch las man vielleicht Dinge wie »Mit zwölf Jahren setzt beim Kind die Pubertät ein, die mit achtzehn Jahren abgeschlossen ist«, aber das wäre eine Verallgemeinerung. Es gibt Mädchen wie mich und Typen wie Derek, die nicht dieser Norm entsprechen.
Vielleicht war Rae im Hinblick auf ihre paranormalen Kräfte ein Spätzünder wie ich mit meiner Periode. Und vielleicht waren
meine
Kräfte wie Dereks Pubertät, wo alle Veränderungen auf einmal kamen.
Offenbar hatten Halbdämonen eine menschliche Mutter, aber einen Dämon als Vater, der menschliche Gestalt angenommen hatte, um die Mutter zu schwängern. Es hätte zu Raes Geschichte gepasst. Die Mutter, die sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte, und der unbekannte Vater.
»Rauch!«, quiekte sie, bevor sie sich hastig die Hand vor den Mund schlug. Sie schwenkte das Streichholz. »Ich hab Rauch gesehen. Ich schwör’s. Ja, ich weiß, ich brauche wirklich ein Leben, aber das war einfach cool. Da, pass auf.«
Sie nahm das nächste Streichholz aus der Schachtel.
War Rae eine Halbdämonin?
Ich hoffte es wirklich für sie.
40
R ae hatte die Weckfunktion ihrer Armbanduhr auf drei Uhr morgens gestellt. Derek behauptete, das sei die Zeit, in der es am stillsten war und wir am wenigsten Gefahr liefen, entdeckt zu werden. Um 2:45 Uhr schalteten wir den Wecker aus, noch bevor er geklingelt hatte, und fünf Minuten später waren wir aus dem Zimmer, die Rucksäcke in den Händen.
Als ich unsere Tür zuzog, wurde es im Gang stockfinster. Das Ticken der Standuhr unten leitete uns zur Treppe.
Ich schwöre, dieses Mal knarrte wirklich
jede
Stufe, aber sosehr ich auch auf ein Geräusch von Tori oder Mrs. Talbot horchte, ich hörte nur die Uhr.
Am Fuß der Treppe sickerte eine Spur Mondlicht an den zugezogenen Vorhängen vorbei und lieferte gerade genug Helligkeit, dass ich Stühle und Tische erkennen konnte, bevor ich in sie hineinkrachte. Ich bog in den Hausflur ab, als eine dunkle Gestalt aus den Schatten trat. Ich unterdrückte einen Aufschrei und runzelte die Stirn, während ich mich anschickte, Derek anzuzischen. Aber es war Simon, und ein einziger Blick auf sein aschgraues Gesicht ließ mir die Worte im Hals stecken bleiben.
»Was …«, begann ich.
»Ist Derek bei dir?«
»Nein, w…«
»Er ist weg.« Er hob etwas Blinkendes hoch, und ich brauchte einen Moment, bis ich es als Dereks Armbanduhr erkannte. »Er hat die Weckfunktion auf viertel vor drei gestellt. Als sie losging, bin ich aufgewacht und hab die Uhr auf meinem Kopfkissen gefunden. Und sein Bett war
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