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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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der Film im Hintergrund weiterlief, begann ich, mir Sorgen zu machen. Er hatte so sorgfältig darauf geachtet, Simon nicht wissen zu lassen, dass es ihm nicht gutging. Wenn Simon trotzdem merkte, dass er sich »nicht besonders« fühlte, konnte das nur bedeuten, dass Derek zu krank war, um es geheim zu halten.
    Ich schlüpfte aus dem Medienzimmer, besorgte vier Tylenoltabletten und ein Glas Wasser und trug das ganze Zeug hinauf in den ersten Stock.
    Ich klopfte an die Tür. Keine Antwort. Ich sah durch den Türspalt, dass Licht an war, aber er konnte ja auch beim Lesen eingeschlafen sein.
    Oder zu krank sein, um zu antworten.
    Ich klopfte wieder, etwas lauter diesmal.
    »Derek? Ich bin’s. Ich hab dir Wasser und Tylenol mitgebracht.«
    Immer noch nichts. Ich berührte den Türknauf, er fühlte sich unter meinen Fingerspitzen kalt an. Derek schlief wahrscheinlich. Oder er ignorierte mich.
    »Ich lasse es hier stehen.«
    Als ich mich bückte, um das Glas auf dem Fußboden abzustellen, öffnete sich die Tür, eben weit genug, dass ich Dereks nackten Fuß in dem Spalt erkennen konnte. Ich richtete mich auf. Er hatte auch diesmal nur Boxershorts an, und mein Blick schoss zu der ungefährlichen Zone seines Gesichts hinauf, aber nicht ohne den Schweiß auf seiner Brust zu bemerken. Das Haar klebte ihm rings ums Gesicht am Kopf, und seine Augen waren fiebrig, die Lippen geöffnet. Sein Atem ging hart und mühsam.
    »Ist alles …?«, begann ich.
    »Schon okay.«
    Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und zwinkerte nachdrücklich, als hätte er Mühe, klar zu sehen. Als ich ihm das Glas hinstreckte, nahm er es durch den Türspalt entgegen und trank einen großen Schluck.
    »Danke.«
    Ich gab ihm das Tylenol. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
    »Passt schon.«
    Er hielt die Tür mit dem Fuß offen und griff nach hinten, um sich zu kratzen.
    »Vielleicht solltest du ein Bad nehmen«, sagte ich. »Ein kaltes Bad gegen das Fieber. Und Backpulver könnte gegen das Jucken helfen. Ich kann dir welches …«
    »Nee, ist schon okay so.«
    »Wenn du irgendwas brauchst …«
    »Muss mich bloß ausruhen. Geh wieder runter, bevor irgendjemand was merkt.«
    Ich ging zur Treppe.
    »Chloe?«
    Ich sah mich um. Er beugte sich zur Tür heraus.
    »Sag Simon nichts, okay? Wie übel ich drauf bin?«
    »Er weiß, dass du dich nicht gut fühlst. Du solltest es ihm wirklich …«
    »Mit mir ist alles in Ordnung.«
    »Mit dir ist nichts in Ordnung. Er wird es rauskriegen, und …«
    »Wird er nicht. Ich kümmere mich schon drum.«
    Er zog sich wieder zurück, und die Tür fiel klickend ins Schloss.
     
    Als wir an diesem Abend im Bett lagen, konnte Rae einfach nicht still sein. Sie wollte von ihrem Rucksack reden, darüber, was sie eingepackt hatte, ob sie die richtige Auswahl getroffen hatte oder ob sie lieber etwas anderes mitnehmen sollte.
    Ich wollte sie nicht abwürgen. Sie war so aufgeregt wie ein Kind, das zum ersten Mal in ein Ferienlager fährt. Was merkwürdig war, denn nach dem, was mit ihrer Freundin passiert war, musste Rae doch wissen, dass das Leben auf der Straße kein fantastisches Abenteuer war.
    Ich nehme an, für sie war dies einfach etwas ganz anderes. Sie ging mit Simon und mir, und wahrscheinlich gab es wenige Teenager, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu Bonnie und Clyde mutieren würden, noch geringer war. Dies war nicht der erste Schritt in die Jugendkriminalität, es war eine Mission. Und außerdem – wie Simon und Derek gesagt hatten –, die alten Regeln galten für uns einfach nicht mehr.
    »Weil wir was Besonderes sind.« Ich hörte ein sprudelndes Auflachen. »Das hört sich ja dermaßen lahm an. Aber das ist es doch schließlich, was jeder will, oder? Etwas Besonderes sein.«
    Jeder? Es gab eine Menge Dinge, die ich sein wollte. Intelligent, natürlich. Begabt, ganz entschieden. Hübsch? Ich geb’s ja zu. Aber etwas Besonderes?
    Ich hatte einen zu großen Teil meines Lebens damit verbracht, etwas Besonderes zu sein. Das reiche Mädchen, das seine Mutter verloren hatte. Die Neue in der Klasse. Die, die darstellende Kunst belegte, aber nicht Schauspielerin werden wollte. Für mich war
etwas Besonderes
gleichbedeutend damit, anders zu sein, und nicht auf eine gute Art anders. Ich hatte mir immer gewünscht, normal zu sein, und ich nehme an, darin lag die Ironie der Sache. Während ich von einem normalen Leben geträumt hatte, hatte ich die ganze Zeit eins geführt. Zumindest

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