Schattenstunde
mitten im Aufstehen. Dann ließ sie sich langsam wieder aufs Bett fallen.
»Ich hab nicht gemeint …«
»Was willst du, Chloe?« Sie versuchte, es schneidend klingen zu lassen, aber die Worte kamen still und müde heraus.
»Liz’ Shirt«, sagte ich nach einer Pause. »Rae sagt, du hast dir ein grünes Kapuzenshirt von Liz geliehen.«
Sie winkte zur Kommode hinüber. »Es ist da drin. Mittlere Schublade. Wehe, du bringst meine Sachen durcheinander, dann kannst du das ganze Zeug wieder zusammenlegen.«
Und das war alles. Kein »Warum willst du das?« oder »Hat sie angerufen und danach gefragt?«. Ihr Blick war bereits wieder abwesend. Medikamente? Oder war ihr inzwischen alles gleichgültig?
Ich fand das Oberteil, ein smaragdgrünes Kapuzenshirt von Gap. Ein persönliches Besitzstück.
Ich schloss die Schublade und richtete mich auf.
»Du hast, was du wolltest«, sagte Tori. »Jetzt verschwinde und spiel mit deinen Freunden.«
Ich ging zur Tür, griff nach dem Knauf und drehte mich dann zu ihr um.
»Tori?«
»Was?«
Ich hätte ihr gern viel Glück gewünscht. Ich hätte gern gesagt, dass ich hoffte, sie würde finden, was sie suchte und brauchte. Ich hätte gern gesagt, dass es mir leidtat.
Bei allem, was in Lyle House vor sich ging, und über der Entdeckung, dass mindestens drei von uns nicht hierher gehörten, konnte man leicht vergessen, dass manche es eben doch taten. Tori hatte Probleme. Von ihr zu erwarten, dass sie sich benahm wie ein beliebiges, normales Mädchen, und sie zu meiden und zu beleidigen, wenn sie es nicht tat, das war, als machte man sich über die langsameren Jugendlichen in der Schule lustig. Sie brauchte Hilfe und Unterstützung und Rücksicht, und der einzige Mensch hier, von dem sie es bekommen hatte, war Liz.
Ich umklammerte Liz’ Kapuzenshirt und versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, das ich zu ihr hätte sagen können. Aber ganz egal, was ich jetzt sagte, von mir hätte es falsch geklungen, herablassend.
Also sagte ich das Einzige, das überhaupt möglich war: »Bis dann.«
39
I ch stopfte Liz’ Kapuzenshirt in meine Tasche. Es nahm dort mehr Platz weg, als ich aufwenden konnte, aber ich musste es mitnehmen. Es konnte mir eine Frage beantworten, auf die ich eine Antwort brauchte – zumindest sobald ich den Mut aufbrachte, sie zu stellen.
Als Derek erklärt hatte, wir würden heute Nacht gehen, war mein erster Gedanke gewesen:
Wir haben nicht genug Zeit.
Aber in Wirklichkeit hatten wir zu viel Zeit. Wir machten Hausaufgaben, die wir nie abgeben würden, halfen Mrs. Talbot bei der Planung von Mahlzeiten, die wir nie essen würden, und kämpften die ganze Zeit gegen das Bedürfnis an, uns davonzuschleichen und weiter zu planen. Sowohl Rae als auch Tori hatten mein »Palaver« mit den Jungen bemerkt, und wenn wir es zu auffällig machten, konnten auch die Schwestern irgendwann auf den Gedanken kommen, dass vielleicht nicht nur Teenagerhormone am Werk waren.
Ich erzählte den anderen von meiner Auseinandersetzung mit Tori, aber niemand schien sich deshalb Gedanken zu machen. Es war genau so, wie ich ihr erzählt hatte – sie kam uns kaum noch in den Sinn. Irrelevant. Ich fragte mich, ob es das war, was sie mehr verletzte als alles andere.
Wir verbrachten den Abend damit, einen Film anzusehen. Ausnahmsweise brachte ich so wenig Interesse für ihn auf, dass man mich zehn Minuten nach dem Abspann nach der Handlung hätte fragen können, und ich hätte sie nicht mehr zusammenfassen können.
Derek setzte sich nicht dazu. Simon erklärte, sein Bruder sei noch vom Vorabend müde und wollte sich ausruhen, um den Kopf frei zu bekommen und um uns später besser helfen zu können. Ich fragte mich, ob sich das Fieber zurückgemeldet hatte.
Als Mrs. Talbot sich nach Derek erkundigte, sagte Simon nur, dass er sich »nicht besonders« fühlte. Sie sagte irgendwas Mitfühlendes und zog sich dann, ohne nach oben zu gehen und nach ihm zu sehen, für ein Kartenspiel mit Ms. Abdo zurück. Bei Derek war das das Übliche. Die Schwestern schienen ihn weitgehend sich selbst zu überlassen, als hätten sie über seiner Größe vergessen, dass er noch ein Junge war. Oder vielleicht wollten sie angesichts seiner Akte und seiner Diagnose auch so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben.
Bemerkte er, wie sie ihn behandelten? Ich bin mir sicher, er tat es. Derek entging nichts, und ich hatte den Verdacht, es bestärkte ihn nur in der Überzeugung, dass er hier bleiben musste.
Während
Weitere Kostenlose Bücher