Schattenstunde
kritisierte.
»Wenn jemand da ist, ich würde gern mit dir reden.«
»Mach die Augen zu«, sagte Rae. »Konzentrier dich.«
Etwas sagte mir, dass die Sache entschieden komplizierter sein musste als »mach die Augen zu, konzentrier dich und rede mit ihnen«. Aber etwas Besseres fiel mir auch nicht ein. Also probierte ich es damit.
»Nichts«, sagte ich einen Moment später.
Als ich die Augen wieder öffnete, schoss eine Gestalt vorbei, so schnell, dass ich nur einen verschwommenen Schatten sah. Ich fuhr herum, versuchte ihr mit den Augen zu folgen, aber sie war schon wieder fort.
»Was?«, fragte Rae. »Was hast du gesehen?«
Ich schloss die Augen und versuchte, das Bild aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Einen Moment später hatte ich es. Ich sah einen Mann, rasiert, in einem grauen Anzug mit einem weichen Filzhut und einer Hornbrille. Wie jemand aus den fünfziger Jahren.
Ich erzählte ihr, was ich gesehen hatte. »Aber es war bloß eine Art Flash. Es sind die Medikamente. Heute hab ich sie nehmen müssen, und irgendwie scheinen sie die, äh, Übertragung zu beeinträchtigen. Ich kriege nur diese kurzen Momente.«
Ich drehte mich langsam auf der Stelle und kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich, so gut ich konnte, um noch den mattesten Schimmer aufzufangen. Als ich mich weiter um mich selbst drehte, rammte mein Ellbogen die Tür und schlug sie mit einem merkwürdig metallischen Geräusch gegen die Wand.
Ich winkte Rae zur Seite und zog die Tür nach vorn, um einen Blick dahinter zu werfen. Sie quetschte sich in den Spalt hinein, um selbst nachzusehen.
»Sieht so aus, als hätten wir was übersehen, stimmt’s?«, fragte sie grinsend.
Der Abstellraum war so klein, dass die geöffnete Tür seine linke Wand fast vollkommen verdeckte. Aber als ich jetzt dahintersah, bemerkte ich eine an dieser Wand befestigte eiserne Leiter. Ein paar Sprossen führten hinauf zu einer kleinen Holztür auf halber Höhe der Wand, grau gestrichen, so dass sie mit der Farbe des Betons zu verschmelzen schien. Ich setzte den Fuß auf die Leiter. Die Tür war nur mit einem Riegel gesichert. Ein kräftiger Ruck, und sie öffnete sich. Vollkommene Dunkelheit.
Ein muffiger Gestank quoll aus der Öffnung.
Der Geruch verrottender Leichen.
Klar. Als ob ich eine Ahnung gehabt hätte, wie Leichen rochen. Die einzige Leiche, die ich jemals gesehen hatte, war die meiner Mutter gewesen. Sie hatte nicht tot gerochen. Sie hatte wie Mom gerochen. Ich schüttelte die Erinnerung ab.
»Ich glaube, das ist so ein Kriechkeller wie damals bei meiner Tante unterm Haus«, sagte ich. »Ich sehe mal nach.«
»Hey.« Rae zupfte mich hinten an meinem T-Shirt. »Nicht so schnell. Es sieht ziemlich finster aus da drin … zu finster für jemanden, der bei offenen Jalousien schläft.«
Ich strich mit der Hand über den Boden hinter der Öffnung. Feuchte, harte Erde. Ich tastete die Wand ab.
»Erde«, sagte ich. »Und kein Lichtschalter. Wir werden eine Taschenlampe brauchen. Ich hab eine gesehen …«
»Ich weiß. Ich bin dran, ich gehe sie holen.«
23
A ls Rae zurückkam, streckte sie die leeren Hände nach beiden Seiten aus und sagte: »Okay, rate mal, wo ich sie habe.«
Sie drehte sich sogar einmal im Kreis, aber ich sah nirgends eine Beule, die groß genug gewesen wäre, um eine Taschenlampe zu verbergen. Dann griff sie sich grinsend in ihren Ausschnitt und zog schwungvoll die Lampe heraus.
Ich lachte.
»Titten zu haben ist prima«, sagte sie. »Das ist wie eine zusätzliche Tasche dort dazwischen.«
Sie klatschte mir die Taschenlampe in die Handfläche, und ich leuchtete in die Öffnung hinein. Der Boden aus harter Erde erstreckte sich ins Innere, so weit der Lichtstrahl reichte. Ich schwenkte die Lampe, und der Strahl traf auf etwas Reflektierendes weiter links. Ein Metallkasten.
»Da ist ein Kasten«, sagte ich. »Aber von hier aus komme ich nicht dran.«
Ich kletterte die restlichen beiden Sprossen der Leiter hinauf und kroch in die Öffnung hinein. Das Loch stank nach Schmutz und abgestandener Luft, als sei seit Jahren niemand mehr da drin gewesen.
Die Decke war sehr niedrig, so dass ich in der Hocke vorwärts watscheln musste. Ich griff nach dem Kasten, er bestand aus grauem Metall mit einem Deckel von der Sorte, die sich abnehmen lässt wie bei einer Geschenkschachtel.
»Ist er abgeschlossen?«, flüsterte Rae. Sie war ebenfalls die Leiter hinaufgeklettert und spähte zu mir herein.
Ich leuchtete mit der Taschenlampe um
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