Schattenstunde
entlang. Als ich an einer Klassenzimmertür vorbeirannte, öffnete sie sich.
»Chloe?« Eine Männerstimme.
Ich rannte weiter.
»Rede mit mir!«, knurrte die fürchterlich verzerrte Stimme, während sie immer näher kam. »Weißt du eigentlich, wie lang ich hier schon gefangen bin?«
Ich stürzte durch die Tür ins Treppenhaus hinaus und die Treppe hinauf.
Aufwärts? Alle dummen Filmheldinnen rennen nach oben!
Ich schlingerte über den Treppenabsatz und nahm die nächste Treppe in Angriff. Der Hausmeister hinkte unter mir die Stufen hinauf, seine Finger umklammerten das Geländer, geschmolzene Finger mit sichtbaren Knochen.
Ich bog in das nächste leere Klassenzimmer ab und knallte die Tür zu. Als ich bis in die Mitte des Raums zurückwich, kam der Hausmeister durch die Tür. Geradewegs
durch
sie. Das fürchterliche geschmolzene Gesicht war verschwunden, und er sah wieder normal aus.
»Ist das besser? Hörst du jetzt auf zu kreischen und redest mit mir?«
Ich rannte zum Fenster und begann nach einem Mechanismus zu suchen, mit dem man es öffnen konnte. Dann sah ich erst, wie weit es draußen nach unten ging. Mindestens zehn Meter – auf Asphalt.
»Chloe!«
Die Tür flog auf. Es war die stellvertretende Rektorin, Ms. Waugh, zusammen mit meinem Mathelehrer Mr. Travis und einem Musiklehrer, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte. Als sie mich am Fenster stehen sahen, streckte Ms. Waugh die Arme aus und versperrte den beiden Männern den Weg.
»Chloe?«, sagte sie leise. »Liebes, du musst von dem Fenster da weggehen.«
»Ich wollte bloß …«
»Chloe …«
Ich sah mich verwirrt nach dem Fenster um.
Mr. Travis stürzte an Ms. Waugh vorbei und riss mich mit sich um. Der Aufprall, mit dem wir auf dem Fußboden auftrafen, verschlug mir den Atem. Als er sich aufrappelte, rammte er mir aus Versehen das Knie in die Magengrube. Ich fiel nach hinten, krümmte mich und rang nach Luft.
Als ich die Augen öffnete, sah ich den Hausmeister über mir stehen. Ich schrie und versuchte aufzuspringen, aber Mr. Travis und der Musiklehrer hielten mich fest, während Ms. Waugh hektisch in ihr Handy redete.
Der Hausmeister beugte sich vor, durch Mr. Travis hindurch. »Und, redest du jetzt mit mir, Mädchen? Du kommst hier nicht weg.«
Ich schlug um mich, trat nach dem Hausmeister und versuchte, mich aus dem Griff der Lehrer zu reißen. Aber sie packten nur noch fester zu. Ich hörte undeutlich, dass Ms. Waugh ihnen zurief, es sei Unterstützung unterwegs. Der Hausmeister schob das Gesicht, das wieder zu der fürchterlichen zerschmolzenen Maske geworden war, bis auf wenige Zentimeter an meins heran, so dicht, dass ich in das eine hervorquellende, fast aus der Höhle getretene Auge starrte.
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Blut füllte meinen Mund. Je mehr ich kämpfte, desto fester hielten mich die beiden Lehrer, und Schmerz schoss durch mich hindurch, als sie mir die Arme verdrehten.
»Seht ihr den eigentlich nicht?«, brüllte ich. »Er steht genau dort. Bitte. Bitte, bitte, bitte. Bringt ihn weg von mir. Schafft ihn weg!«
Sie hörten nicht zu. Ich wehrte mich, ich argumentierte, aber sie hielten mich fest, während der verbrannte Mann stichelte.
Irgendwann kamen zwei uniformierte Männer zur Tür hereingestürzt. Einer half den Lehrern, mich festzuhalten, während der andere hinter meinem Rücken verschwand, wo ich ihn nicht sehen konnte. Finger schlossen sich um meinen Unterarm. Dann ein Nadelstich. Eis schien durch meine Adern zu gleiten.
Der Raum begann zu schwanken. Der Hausmeister verblich, wurde wieder klarer und verschwand wieder.
»Nein!«, brüllte er. »Ich muss mit ihr reden. Kapiert ihr’s nicht? Sie kann mich hören. Ich will doch nur …«
Seine Stimme verklang, als die Sanitäter mich auf eine Trage legten. Die Trage hob sich schwankend. Schwankend, wie ein Elefant. Ich war einmal auf einem geritten, in einem Zoo, mit meiner Mom. Meine Erinnerung kehrte dorthin zurück, Moms Arme, die sie um mich gelegt hatte, ihr Gelächter …
Das wütende Aufheulen des Hausmeisters jagte durch die Erinnerung. »Bringt sie nicht weg. Ich brauche sie!«
Schwanken. Der Elefant schwankte. Mom lachte …
4
I ch saß auf der Kante des Krankenhausbetts und versuchte mir einzureden, dass ich noch schlief. Das war die beste Erklärung für die Dinge, die ich hörte. Ich hätte es auch auf eine Sinnestäuschung schieben können, aber das mit dem Traum war mir lieber.
Tante Lauren saß
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