Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
helfen?«, frage ich.
»Wir sprechen mit allen, die gestern in der Nähe der Klippen waren. Wie wir gehört haben, standen Sie zwischenzeitlich eine Weile auf dem Balkon des Hotels. Haben Sie von dort vielleicht etwas gesehen? Sie müssten eigentlich von dort etwas gesehen haben.«
»Entschuldigung, hat Mara Ihnen nicht … Ich kann nicht sehen, ich bin blind.«
»Das tut mir leid«, sagt der Polizist.
»Ich dachte, Sie wüssten das schon. Ich … Das ist eine lange Geschichte. Aber ich habe etwas gehört. Ich glaube wenigstens, etwas gehört zu haben, Mara meinte, sie hätte nichts gehört, deshalb bin ich nicht sicher.«
»Mara?«
»Mara. Sie hat Ihnen die Tür geöffnet. Sie haben doch eben mit ihr gesprochen …«
»Natürlich. Was glauben Sie, gehört zu haben?«
»Einen Schrei. Während des Feuerwerks, kurz bevor es zu Ende war, hatte ich den Eindruck, einen Schrei zu hören, und später dachte ich, es könnte der Schrei des Mannes gewesen sein, verstehen Sie? Ich meine, in dem Moment, in dem er gestürzt ist …«
»Das wäre denkbar. Was war das genau für ein Schrei?«
»Ich verstehe nicht …«
»Wie hörte sich das an? Beschreiben Sie einfach, was Sie gehört haben.«
»Einen Schrei eben. Einen lang gezogenen Entsetzensschrei.«
»Sehen Sie, damit kann ich schon mehr anfangen.«
»Ein Stück Zitronenkuchen?« Maras helle, klare Stimme, ich sehe ihren Schattenriss hinter dem Fremden.
»Gerne«, sagt der Fremde.
»Dann lassen Sie uns auf die Terrasse gehen. Es ist ein so schöner Tag.«
Ich sehe, wie die Schattenrisse sich entfernen.
»Mara?«
Ich suche nach meinen Kleidern, die auf dem Boden liegen, streife sie über, hastig, ich spüre den Drang nach Maras Nähe und taste mich an den Wänden entlang ins Freie.
»Wunderbar, dieser Zitronenkuchen. Er schmeckt … Ja, er schmeckt nach meiner Kindheit«, sagt der Polizist gerade.
Ich taste nach einem der Stühle.
»Auch ein Stück?«, fragt Mara.
»Natürlich«, sage ich.
Mara reicht mir den Teller und die Gabel, und ich kaue den Kuchen, der den fremden Polizisten an seine Kindheit erinnert. Weit entfernt schlagen die Wellen gegen die Klippen.
»Dieser Mann …«, beginne ich.
»Ja?«, fragt schmatzend der Polizist.
»Weiß man, wer es war?«
»Leider nicht. Keine Papiere. Keiner scheint ihn zu kennen. Dabei muss jemand mit ihm bei dem Fest gewesen sein. Der Mann müsste auch aufgefallen sein, es ist wirklich rätselhaft.«
»Weiß man … Ich meine, vielleicht ist er einfach abgerutscht und gestürzt … Vielleicht war er betrunken.«
»Er war betrunken.«
»Na also, das bedeutet doch …«
»Er war stockbesoffen, sternhagelvoll, Wahnsinn.« Der Polizist lacht, Mara stimmt ein.
»Aber … Das heißt doch, dass es vielleicht ein Unfall war …«
»Kaum. Wir haben die Aussagen mehrerer Zeugen, die versichern, dass der Mann gestoßen wurde.«
»Das heißt … Diese Zeugen müssen doch auch den Täter gesehen haben …«
»Leider nein, eigentlich haben ja alle auf das Feuerwerk geachtet. Die meisten sprechen von einer schattenhaften Gestalt, die den Mann hinabgestoßen hat und fast im selben Moment wieder in der Menge der Festbesucher verschwunden ist.«
»Das klingt beängstigend«, sagt Mara. »Noch ein Stück Kuchen?«
»Gerne.«
»Du auch?«
»Wie?«
»Nimmst du noch ein Stück?«, fragt Mara.
»Ja, natürlich … dieser Mann …«
»Ja?«, fragt der Polizist.
»Ich hoffe einfach, dass Sie die Sache aufklären. Es würde mich sehr … erleichtern. Verstehen Sie, die Insel, unser Leben hier … Das alles ist sehr wichtig für mich, seitdem ich nicht mehr sehen kann, verstehen Sie, ich möchte das nicht verlieren …«
»Ich verstehe Sie sehr gut«, sagt der Polizist.
»Mara und ich … Es hat uns Angst gemacht, dass so etwas hier passiert.«
»Ich verstehe das sehr gut«, sagt der Polizist. »Und deshalb sollten Sie beide jetzt das machen, was ich Sie nicht habe machen lassen.«
»Entschuldigung?«
»Den Tag verschlafen«, sagt der Polizist.
Ich würge einen Krümel Zitronenkuchen aus meiner Speiseröhre. »Den Tag verschlafen«, sage ich.
»Genau. Und ich mache mich auf den Weg«, sagt der Polizist und erhebt sich, ich sehe, wie sein Schattenriss an Größe gewinnt, wie er sich entfernt. Mara folgt ihm. Ich höre, dass Mara an der Tür noch mit dem Polizisten spricht, ich strenge mich verzweifelt an, aber ich verstehe die Worte nicht, die sie wechseln.
Endlich kehrt Mara zurück. Sie gießt sich etwas in ein
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