Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
nach oben dringt, und Mara lacht und lacht und ruft: »Schau nur! Die Farben! Alle Farben!«
Ich kneife die Augen zusammen, bis ich mir vorstellen kann, die Feuerwerkskörper als graue Sternschnuppen zu sehen.
Es dauert quälend lange.
Irgendwo tief unter mir höre ich einen Schrei, einen lang gezogenen Schrei des Entsetzens.
»Alle Farben«, sagt Mara leise, als es vorbei ist, und dann spüre ich, wie einen Stromschlag, ihre Hand, weich und kalt, in meiner.
Der Schrei hallt in meinen Ohren nach, bis ich endlich die Gänsehaut spüre, bis Maras Stimme den Traum durchdringt.
Der beißende Geruch des verpufften Feuerwerks hängt in der Luft. Mara unterhält sich mit Schattenrissen. Ich stehe abseits und konzentriere mich auf Maras Stimme. Ich trinke Wein, der beginnt, mir zu Kopf zu steigen, und ich stelle mir Mara vor, auf dem gelben Fahrrad, wie sie an einem nebligen Tag den grünen Hügel hinunterradelt, ich stelle mir vor, wie der Nebel Mara schluckt, als ein Schrei das Stimmengewirr durchdringt.
Der Schrei hallt nach, die Gespräche verebben, Stille. Irgendwo zerspringt ein Glas. Einer lacht. Ich halte den Atem an, für einen Moment habe ich den Eindruck, den Schrei schon gehört zu haben, kurz bevor er ausgestoßen wurde. Der Schrei wiederholt sich, er wird in die Länge gezogen, der schrille Schrei einer Frau.
Ich höre Schritte, Schattenrisse, die sich in Bewegung setzen, um zu sehen, was passiert ist.
»Mara!«, rufe ich, aber Mara antwortet nicht. Gläser werden abgestellt, Schattenrisse rempeln mich an, lassen mich stehen, alle scheinen in dieselbe Richtung zu gehen, in die Richtung, in der ich das Wasser vermute, die Klippen.
Der Schrei wiederholt sich zum dritten Mal.
»Da unten liegt einer!«, ruft eine Frau.
Ich erinnere mich an den anderen Schrei, den ich gehört habe, oben auf dem Balkon, kurz bevor das Feuerwerk endete. Der Todesschrei des Mannes, der unten im flachen Wasser liegt?
»Mara!«
»Er ist gestoßen worden«, ruft einer.
Ich sehe grau auf schwarz das Flackern eines Blaulichts, ich höre Sirenen und um Ruhe bemühte Polizistenstimmen.
Ich gehe langsam in die Richtung, in der ich die Klippen vermute. »Schauen Sie, da unten liegt er!«, sagt einer direkt neben mir. Ich suche die Augen des Schattenrisses, aber ich kann nichts erkennen.
»Da unten, sind Sie blind?«, sagt der Schattenriss. »Da ist einer von den Klippen gestürzt!«
»Er ist gestoßen worden!« Die Stimme einer Frau.
»Er ist abgerutscht.« Die Stimme eines Mannes.
»Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung.« Maras kalte Hand in meinem Nacken.
»Mara … Mara, kannst du sehen, was passiert ist?«
»Ein Mann liegt unten im Wasser. Er muss gestürzt sein.«
»Aber …«
»Was?«
»Bring mich hin, ich muss näher heran.«
»Das geht nicht«, sagt Mara, aber ich reiße mich los. Ich laufe einfach. Ich fühle mich stürzen, gleich werde ich stürzen, so wie der andere gestürzt ist, kurz bevor das Feuerwerk endete, ja, ich habe auf dem Balkon stehend den lang gezogenen Schrei des Mannes gehört.
Maras Stimme im Hintergrund. »Bleib stehen!«
»Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt, bitte, machen Sie Platz«, sage ich.
Maras Stimme aus großer Entfernung. »Was redest du da?«
Ich packe einen Schattenriss und rede auf ihn ein: »Führen Sie mich zu dem Mann, ich bin Arzt, ich kann in der Dunkelheit schlecht sehen, Sie müssen mich führen, verstehen Sie, verstehen Sie, dass es eilt, dass es schnell gehen muss?«
Der Schattenriss nimmt meine Hand und führt mich über die glitschigen Klippen hinab. »Lassen Sie uns durch, ich bin Arzt.«
»Was soll das? Hier ist abgesperrt. Wer sind Sie?«
»Ich bin Arzt, ich kann dem Mann helfen.«
»Da gibt es nichts zu helfen, der Mann ist tot. Gehen Sie bitte!«
Das Plätschern von Wasser, ich bin ganz nah, ich sehe die Konturen des toten Körpers, ich bücke mich und strecke die Hand nach ihm aus.
»Was zum Teufel machen Sie da? Verlassen Sie bitte die abgesperrte Zone.«
»Er sagt, er sei Arzt«, sagt die Stimme des Schattenrisses, der mich hinuntergeführt hat. Ich ducke mich tiefer, schüttle einen Arm ab, der mich an der Schulter gepackt hat, spüre das Wasser an meinen Schuhen, meinen Beinen, ich greife nach dem Körper, ich spüre den Stoff der durchnässten Kleidung, ich taste die Haut, das Gesicht des Toten ab.
»Was ist das für ein Spinner?«, ruft einer. »Schafft den da weg!«
»Er gehört zu mir, lassen Sie mich das machen«, sagt Mara. Sie ist bei
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