Schattentag: Kriminalroman (German Edition)
fragt der Löwe.
»Fang mir eine Maus. Schnell, ich habe Hunger.«
Erst jetzt fällt dem Löwen auf, dass viele Mäuse um ihn herumwuseln, sie scheinen sich über ihn lustig machen zu wollen. »Fang uns doch, fang uns doch«, lispeln sie.
Und dann fängt der Löwe eine Maus, wirft sie der Eule in den Schlund, und die Eule hebt die Schranke. »Allzeit gute Reise!«, ruft sie dem Löwen schmatzend nach, und der Löwe läuft federnd und guter Dinge tiefer in den Wald hinein.
Und dann habe ich Kopfschmerzen und Mara keine Lust mehr, den Tag zu verschlafen.
Wir laufen den Hügel hinunter, den Steg entlang, am Rand der Insel, auf die Klippen, auf das Wasser zu. Mara gibt das Tempo vor. Ich habe Mühe, mich ihrer Geschwindigkeit anzupassen. Mara hat jetzt doch Lust bekommen, sich die Stelle anzusehen, an der es passiert ist.
Irgendwann bleibt Mara stehen und zupft mich am Arm, um mir zu signalisieren, ebenfalls stehen zu bleiben. »Wir sind da«, sagt sie. »Noch zwei Schritte, dann geht es steil bergab.«
Ich senke den Kopf, in der Hoffnung, den Abgrund als Schatten zu sehen, aber ich sehe nichts. Ich höre laut das Rauschen des Meeres und leise Stimmen von Menschen, die sich etwas zurufen, ich verstehe nicht, was.
»Was siehst du?«, frage ich.
»Da unten arbeiten Polizisten«, sagt Mara.
»Sag mir, was du siehst.«
»Zwei tragen blaue Uniformen, vier weiße Mäntel … oder wie sagt man?«
»Overalls.«
»Genau.«
»Weiter.«
»Die Stelle ist als Viereck abgesperrt. Mit gelbem Klebeband.«
»Weiter.«
»Das Wasser ist dunkelblau, der Himmel ist hellblau.«
»Weiter.«
»Die Sonne scheint gelb, und das Klebeband ist übrigens eher orange. Sturm kommt auf.«
»Wie bitte?«
»Sturm kommt auf. Spürst du nicht, wie der Wind zunimmt?«
Ich hebe den Kopf und versuche, den Wind zu spüren. »Nein«, sage ich.
»Armer Teufel«, sagt Mara. »Er wollte doch nur ein schönes Feuerwerk sehen.« Ich spüre Maras Hand unter meinem T-Shirt. »Meinst du, das Feuerwerk hat ihm gefallen?«, fragt sie.
»Du meinst, dem Toten?«, sage ich.
»Wem sonst?«
»Bestimmt.«
»Wieso bestimmt? Wie willst du das wissen?«
»Es war doch schön. Warum sollte es ausgerechnet dem Toten nicht gefallen haben, wenn alle anderen es schön fanden?«
Die Sonne scheint gelb, aber Sturm kommt auf.
»Das Gelb ist schon dunkel und dreckig«, sagt Mara.
»Ich spüre nichts«, sage ich.
»Und der blaue Himmel färbt sich schwarz … Einer von denen im weißen Overall scheint was gefunden zu haben.«
Ich spüre einen Stich in der Brust. »Kannst du sehen, was?«
»Nein. Er redet mit den anderen.«
»Kannst du wirklich nichts sehen?«
»Nein, verdammt. Frag nicht so dumm.«
»Entschuldige.«
»Ich gehe runter«, sagt Mara und zieht ihre Hand unter meinem T-Shirt weg. Ihre Fingernägel reißen ein wenig Haut von meinem Rücken mit.
»Warte«, rufe ich, aber Mara ist schon gegangen. Ich sehe grau auf schwarz ihren Schattenriss, der im Abgrund verschwindet, Mara klettert die Klippen hinab. Ich schließe die Augen und beginne, auf ihre Rückkehr zu warten. Alles ist ruhig, nur die Wellen rauschen. Die Haut unter meinem T-Shirt brennt, und einige Ewigkeiten vergehen.
»Mara!«, rufe ich. »Mara! Mara!!«
»Schrei doch nicht so«, sagt sie.
Ich habe sie nicht kommen hören. »Mara«, flüstere ich.
»Nichts. Sie haben mich weggeschickt. Keine Ahnung, was sie gefunden haben.«
»Mara, was würdest du tun, wenn ich sterben würde?«
Mara lacht. »Ins Krankenhaus gehen und mir einen neuen Mann holen. Am liebsten einen blinden.«
Es ist so ruhig. Alles wie zum Stillstand gekommen.
»Sturm kommt auf«, sagt Mara.
Mara hat alle Türen und Fenster geschlossen, lose Bretter schlagen gegen die Wände von Maras Holzhaus, zunehmend härter und in kürzer werdenden Abständen, und Mara hat mich aus meinen Kleidern gezerrt, und wir liegen auf dem Boden, ihre Haare, ihr Atem, ihre Lippen in meinem Gesicht, und ich taste ihren nackten Körper ab, jeden Zentimeter, bis sich ein Bild herauskristallisiert, ein Bild von Maras Körper, das der Realität entsprechen könnte, und Mara schreit, und der Boden schwankt unter mir gerade in dem Moment, in dem ich mich so glücklich fühle wie nie, und ich warte darauf, dass endlich eine Böe das rote Holzhaus, auf dessen Boden wir liegen, in die Luft heben und ohne Weiteres in kleine, nie mehr zu identifizierende Stücke reißen wird.
Wer bin ich gewesen? Eine einfache, nicht zu beantwortende Frage.
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