Schattentraeumer - Roman
Plötzlich drang von draußen ein markerschütterndes,
unheimliches Geräusch herein. Dhespina ließ vor Schreck einen Teller fallen. Ihr war eingefallen, dass ihr Jüngster noch draußen
war, und sie rannte hinaus in den Garten. Dort fand sie Loukis, auf dem Grab des Hundes kauernd. Den Kopf zum Himmel gereckt,heulte er den Mond an. Sein hübsches Gesicht war angstverzerrt, und alles Leid der Welt schien sich in diesem verzweifelten
animalischen Schrei zu bündeln, der sich seiner Kehle entrang und seiner Mutter beinahe das Herz brach. Er heulte wie der
Wolf, zu dem sie ihn gemacht hatten – und seine Mutter konnte nichts anderes tun als danebenstehen und warten, bis es vorüber
war.
Dhespina fürchtete weiteres Gerede unter den Nachbarn, die ohnehin schon über Loukis tratschten, weil er erst so spät angefangen
hatte zu laufen und sich hartnäckig weigerte, mit ihren Söhnen zu spielen. Daher erklärte sie ihrem Sohn am darauffolgenden
Tag, dass es sich auf Zypern nicht gehörte, den Mond anzuheulen, besonders nicht für einen fünfjährigen Jungen. Er war schließlich
ein Kind, und kein Wolf. Sie wollte, dass er dem zustimmte, was sie gesagt hatte, doch obwohl er sie aufmerksam anschaute,
sagte er kein Wort. Zwei Tage später erlitt er seinen ersten Anfall.
Während Dhespina ihn nun betrachtete, acht Jahre nach alledem und wie gelähmt von einem anderen Schmerz, schämte sie sich.
Sie war diejenige gewesen, die aus ihm ein menschliches Wesen gemacht hatte, das seine Tränen so lange in sich einschloss,
bis der Druck zu groß wurde und sie unerträglich gegen seinen Schädel hämmerten. Doch da war noch ein anderes, angenehmes
Gefühl, das ihre Scham milderte: das befriedigende Bewusstsein, dass ihr Sohn sie brauchte. Auch wenn es ihr in der Seele
weh tat, mit anzusehen, wie die Dämonen sein liebes Gesicht blass werden und seine Brust qualvoll nach Luft ringen ließen,
war sie zugleich doch dankbar für die Gelegenheit, ihm helfen und diejenige sein zu können, die ihn von seinen Qualen erlöste.
Loukis war sein ganzes junges Leben hindurch ein so unerreichbares Geschöpf gewesen, und Momente wie dieser, in denen er körperlich
ihre Nähe suchte, waren so rar und schön wie eine Rose im Winter. Und mochte die Hand Gottes sie auch niederstrecken für ihre
Gedanken, sie liebte diese Hilflosigkeit des Jungen und das Gefühl, dass sie – wenn auch nur für kurzeMomente – seine Welt war. Loukis war ihr Sohn, und sie liebte ihn – Gott war ihr Zeuge, wie sehr sie ihn liebte –, doch er
hatte ihr nie gehört. Diese Wahrheit hatte sie schon ganz am Anfang erkennen müssen, als ihr Bauch fest und groß hervorstand
und Praxi ihre kleinen Ärmchen ausstreckte und Anspruch auf ihren Sohn erhob. Sie verlangte, auf Dhespinas Schoß gehoben zu
werden, wo sie sich dann um die Wölbung schlang, in der sich Loukis verbarg, und man konnte sie nicht fortnehmen, bevor sie
nicht eingeschlafen war. Wenn Praxi ihm nahe war, hatte ihr Baby stets ganz still gelegen, und Dhespina hatte spüren können,
wie glücklich es war.
Damals hatte das versammelte Kaffeekränzchen – Dhespinas Schwester Lenya, Praxis Mutter Elena und Frau Germanos, die Nachbarin
– kichern müssen, und Elena hatte gewitzelt, dass die Hochzeit von Dhespinas Kind, sollte es wieder ein Junge werden, damit
so gut wie arrangiert sei.
»Wenn es nicht hier im Kaffeesatz geschrieben steht, dann in den Sternen«, hatte sie prophezeit, und die anderen waren sich
einig gewesen, dass sie wohl recht hatte.
Doch natürlich kann sich auf Zypern selbst der hellste Stern im Dunkeln verirren.
Als Loukis eingeschlafen war, nahm Dhespina die beiden Eimer und schloss leise die Tür hinter sich, damit die Träume des Jungen
ihr Werk tun konnten.
Jetzt, da Christakis, ihr ältester Sohn, mit seiner Frau zusammenlebte, und Michalakis nach Lefkosia, in die Hauptstadt, gezogen
war, um für die Zeitung zu arbeiten, hatten die Zwillinge ihr eigenes Zimmer bekommen. Zum ersten Mal war Dhespina dankbar
für den Platz, den ihre älteren Söhne freigemacht hatten. Jungs hatten ein ausgeprägtes Revierverhalten und zeigten sich zunehmend
unvernünftiger, je größer sie wurden. Der Teufel wäre los gewesen, wenn die Zwillinge ihre Betten für »Mammas Liebling« hätten
räumen müssen, und gerade spürte Dhespina das Alter in den Knochen, und ihr Kopf schmerzte vom vielen Denken. Eine Streiterei
mit aufsässigenHalbstarken
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