Schattenturm
Schulter.
Als sie den Bogen sah, begann sie zu schreien.
»Lauf, Häschen, lauf !«, brüllte Duke und hob den Bogen auf Schulterhöhe. Siobhàn rannte davon, stolperte durchs Gestrüpp und stieß mit den nackten Füßen gegen die spitzen Steine. Sie war dreißig Meter weit gekommen, als der erste Pfeil sie traf.
Joe wählte die Nummer von Marcy Winbaum, der ersten Person, der er die Wahrheit sagen musste, seit Anna entführt worden war. Marcy sprach mit dem Selbstvertrauen einer Frau, die hart gearbeitet hatte, um Karriere zu machen und ihre Ziele zu erreichen. Während Joe ihr zuhörte, erfasste ihn Entsetzen. Nie zuvor hatte er ein ähnlich beängstigendes Gefühl verspürt. Die Brust wurde ihm eng, und in seinem Schädel pochte es schier unerträglich. Er versuchte, seine Panik niederzukämpfen, als er Bilder der ermordeten texanischen Frauen vor Augen sah, die wie zerrissene Puppen abgelegt worden waren. Diese Bilder wurden von Duke Rawlins’ Verbrecherfoto verdrängt, dann vom Anblick des toten Donald Riggs.
Und dann sah er Anna. Joe spürte, dass etwas in seinem Innern zerriss. Er hatte zugelassen, dass dieser Irre den Weg seiner Frau kreuzen konnte. Jetzt blieb ihm nur noch die Hoffnung, Duke Rawlins irgendwie dazu zu bringen, dass er Anna freiließ.
Victor Nicotero verließ die Telefonzelle. Er dachte an Dorothy Parnum und daran, dass Menschen stark und schwach zugleich sein konnten. Der Gedanke gefiel ihm. Er zog seine FOP-Mappe heraus, um diesen Gedanken für seine Memoiren aufzuschreiben, griff in die Innentasche seines Jacketts und suchte den silbernen Kugelschreiber, den er zur Verabschiedung bekommen hatte, fand ihn aber nicht. Er sah in der Mappe nach und klopfte die anderen Taschen ab. Vergeblich.
»Verdammt!«, fluchte er und drehte sich um.
Duke kniete vor dem Leichnam Siobhàns und verstümmelte ihn mit der gebogenen Klinge. Anna, die an den Füßen nicht mehr gefesselt, aber an einen dünnen Baumstamm gebunden war, beugte sich vor und erbrach sich. Bei der Bewegung spürte sie den lockeren Knoten, der ihre Handgelenke fesselte.
»Sieh genau hin«, sagte Duke, »oder ich werde dich zwingen, etwas zu tun, das du bereuen wirst!«
Anna blickte ihn mit tränennassen Augen an.
»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte Duke. »Die Verantwortung dafür trifft dich und deinen Mann. Wenn du Lust hast, kannst du dir und ihm die Schuld geben.«
Lächelnd vollendete er jeden Schritt seines Rituals, während er über die Schulter auf Anna blickte, deren hübsches, nun aber von Panik erfülltes Gesicht ihm wohlige Schauer über den Rücken sandte.
Als er sich umdrehte, rannte Anna davon.
Frank Deegan verteilte die Bilder auf dem Beifahrersitz, um während der Fahrt einen Blick darauf zu werfen. Beim zweiten Bild musste er anhalten. Er betrachtete das Foto und las die sachlichen Erläuterungen zur Beschaffenheit von Haut, Knochen, inneren Organen und schließlich zu den entsetzlichen, tödlichen Wunden.
Wie konnte ein Mensch solch zarte Geschöpfe auf eine so schreckliche Weise vernichten?
Wieder blickte Frank auf die Bilder. Er erkannte die Übereinstimmungen zwischen den Wunden der Opfer in den Vereinigten Staaten und den Verletzungen, die Mary Casey in Doon zugefügt worden waren. Aber es gab noch eine andere Verbindung, die über diese Übereinstimmungen hinausging und zu der er keinen Strich ziehen konnte – Joe Lucchesi. Und eine weitere Verbindung gleich daneben – die zur schlanken, zierlichen Anna.
Dorothy Parnum tupfte sich mit einem zusammengeknüllten Taschentuch die Augen, als sie die Tür öffnete. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und vom verblassten Lippenstift war nur die hässliche Spur eines Konturenstifts geblieben.
»Tut mir Leid, dass ich noch einmal stören muss, aber ich habe meinen Kugelschreiber vergessen«, sagte Victor.
Dorothy hielt ihn bereits in der Hand.
»Danke.«
»Gern geschehen«, sagte Dorothy. »Ich muss mich für mein Benehmen vorhin entschuldigen. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzählt habe.« Tränen traten ihr in die Augen. »Aber Sie sahen so freundlich aus, dass eine trauernde Witwe spontan den Wunsch verspürt, ihr Herz auszuschütten.« Sie drückte seinen Arm und begann haltlos zu weinen. Schließlich atmete sie tief durch und versuchte ein Lächeln.
»Keine Huh-Huhs mehr«, sagte sie. »Das hat Ogden immer zu mir gesagt. Keine Huh-Huhs mehr … aber es kamen immer wieder neue.«
30. STINGER’S CREEK
North Central Texas,
Weitere Kostenlose Bücher