Schattenturm
1992
Ogden Parnum schlug die Kunststoffmappe zu und beobachtete, wie der Abdruck seiner verschwitzten Hand auf der Oberfläche langsam schrumpfte und schließlich verschwand. Er starrte auf die Lücke zwischen zwei Fotos an der Wand. Dann senkte er den Kopf, bis sein Nacken schmerzte und das Blut in seinen Schläfen pulsierte. Immer wieder strich er mit zitternden Fingern über sein schütteres Haar. Schließlich drückte er auf die Taste der Sprechanlage.
»Ich glaube, wir müssen jemanden auf die Wache vorladen, Marcy. Kommen Sie in mein Büro.«
»Ja, Chef.«
Im Laufe der Jahre hatte Ogden Parnum fünf Stellvertreter gehabt, aber keiner war so tüchtig gewesen wie Marcy Winbaum. Jetzt wusste er allerdings, dass er eine so clevere und tüchtige Frau wie Marcy bei diesem Fall nicht gebrauchen konnte. Und er verspürte nicht die geringste Lust, dem Verdächtigen gegenüberzutreten, den vorzuladen er gezwungen war.
»Ist das nicht aufregend?«, sagte sie lächelnd und zeigte auf den Laborbericht.
»Immer mit der Ruhe, Marcy. Ich glaube, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Möglicherweise gibt es eine ganz andere Erklärung.«
»Es gibt da noch etwas, das mir keine Ruhe lässt. Wenn ich es Ihnen kurz erklären dürfte, Chef … Ich habe den Fall des Frauenmörders noch einmal genau studiert und alles mit der Akte von Janet Bell verglichen, der Prostituierten, die sich Alexis nannte und deren Leiche 1988 gefunden wurde. Ich glaube, sie gehört auch dazu, Sir.«
»Ihr Leichnam wies eine Schusswunde auf, Marcy.«
»Ich werde es Ihnen erklären, Sir. Der Leichnam unseres ersten Opfers, Mimi Bartillo, der in demselben Jahr gefunden wurde, hatte Stichwunden in den Nieren und sechs Schnitte unterhalb des Brustkorbs. Das Opfer wurde so abgelegt, dass wir es finden mussten. Acht Monate später entdeckten wir den Leichnam von Janet Bell, vergraben und verwest. Bei ihr wies die Niere anscheinend eine Schusswunde auf. Aber sehen Sie sich das hier mal an.« Marcy zeigte auf ein Polizeifoto. »Ihr Satinrock … Wenn Sie genau hinsehen, Sir, können Sie einen dreieckigen Riss im Stoff erkennen.« Marcy hob den Blick zu ihrem Chef. Dessen Miene war ausdruckslos. »Und wenn die Wunde gar nicht durch eine Pistole, sondern durch eine andere Waffe verursacht wurde? Einen Pfeil? Einen dreischneidigen Pfeil? Ich habe mit dem Gerichtsmediziner darüber gesprochen, und er hält es durchaus für möglich. Wenn ein Körper mit hoher Geschwindigkeit von einem Projektil getroffen wird, kann anhand der Wunde festgestellt werden, auf welche Weise das Opfer getötet wurde. Wir können eine Stichwunde von einer Schusswunde unterscheiden. Ist der Verwesungsprozess des Leichnams jedoch fortgeschritten, wird es schwieriger, weil sich eine breiige Masse gebildet hat.« Sie errötete. »Ich nehme an, das Fleisch um die Wunde herum hätte uns verraten, um welche Waffe es sich gehandelt hat. In diesem Fall ist das dreieckige Loch in der Kleidung sozusagen der Schlüssel.« Sie verstummte kurz. »Ich glaube, Janet Bell war das erste Opfer, Sir. Nach der Tat hat der Mörder sie begraben. Dann aber kam er auf die Idee, die Leichen offen liegen zu lassen, und das hat er dann auch getan.«
»Aber wenn Janet Bells Rock zerrissen ist, hätte ihr Leichnam eine Schusswunde im Bein aufweisen müssen.«
»Nicht unbedingt. Stellen Sie sich vor, die Frau versucht in einem Satinrock zu fliehen. Der Wind könnte den Rock in die Höhe wehen. Denken Sie an das berühmte Filmfoto von Marilyn Monroe über dem U-Bahnschacht. Könnte es nicht sein, dass Janet Bell vor ihrem Killer davonlief, wobei der Rock sich hob, sodass der Pfeil durch den Stoff in ihren Rücken drang?«
»Du liebe Güte, Marcy«, sagte Parnum. »Finden Sie das alles nicht ein bisschen weit hergeholt?«
»Ich weiß, dass Sie es nicht ausstehen können, wenn ich mich einmische, aber ich glaube, ich bin auf der richtigen Spur. Bisher hat unser Killer folgende Opfer auf dem Gewissen: Mimi Bartillo, 1988. Cynthia Sloane, 1989. Tonya Ramer, 1990. Tally Sanders, 1991. Und jetzt unsere Jane Doe. Und vermutlich auch Janet Bell, 1987. Das sind mindestens sechs Frauen, Chef. Und wenn die Beweise …«
»Glauben Sie nicht, dass Rachel Wade, die Kellnerin, ebenfalls auf das Konto des Frauenmörders geht. Sie wissen schon … der Mord, für den Bill Rawlins hinter Gittern sitzt?«
Als Parnum diesen Fall erwähnte, wurde ihm klar, dass seine Anstrengungen der letzten vier Jahre ihm die
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