Schattenturm
töten …«
Joe nickte stumm. Sie bogen um die nächste Kurve und rasten an der Abzweigung zur Manor Road vorbei, die sie an der Kirche vorbei und ins Dorf geführt hätte. Beide Männer blickten nach rechts. Richie trat auf die Bremse.
»Mein Gott!«, stieß Joe hervor und schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. Als Richie ein Stück zurücksetzte, rückte der weiße Van in ihr Blickfeld. »Was macht der im Dorf?«
Shaun bettete Annas Kopf behutsam auf seinen Schoß. Es war ein seltsames Gefühl, ihr so nahe zu sein. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haut aschfahl. Seitdem Joe vor einer Viertelstunde Rawlins’ Verfolgung aufgenommen hatte, strich Shaun hilflos über das Haar und die Stirn seiner Mutter. Ein stürmischer Wind peitschte den Regen gegen den Leuchtturm. Von der eisigen Luft schmerzten Shaun die Zähne. Er drehte sich vom Wind weg, so weit es ging, um sich und Anna vor der Kälte zu schützen. Shaun hatte sein Sweatshirt auf Annas Unterleib gelegt und drückte es auf ihre Wunden. Der Anblick ihrer blutüberströmten Kleidung ließ Entsetzen in ihm aufsteigen. Schaudernd wandte er den Blick ab.
Richie hielt am Straßenrand. Das Scheinwerferlicht des Streifenwagens fiel auf den zerbeulten weißen Van, dessen Hecktür Joe soeben mit einem Brecheisen aufstemmte. Doch im Laderaum des Vans herrschte gähnende Leere. Joe lief zurück zu Richie und blinzelte ins Scheinwerferlicht.
»Hier ist er nicht!«, stieß er hervor. »Der Kerl ist abgehauen!«
»Verdammt«, fluchte Richie. »Steigen Sie ein!«
Er wendete und fuhr in halsbrecherischem Tempo in Richtung Dorf. Wie besessen von der Verfolgungsjagd, vergaß er, sich auf die Straße zu konzentrieren und bog mit siebzig Meilen um die nächste Kurve.
»Vorsicht!«, rief Joe.
Der Wagen schlingerte und schleuderte, als Richie scharf bremste. Auf der Straße vor der Kirche parkten zahlreiche Autos; einige setzten sich gerade in Bewegung. Ein Fahrer, der soeben aus einer Parklücke ausgeschert war, hielt vor Entsetzen mitten auf der Straße, als er den Streifenwagen sah, der auf ihn zuraste. Richie riss das Steuer nach links und verlor die Kontrolle über den Wagen. Mit wimmernden Reifen rutschte er über den nassen Asphalt; Regenwasser spritzte in die Luft. Schließlich kam der Wagen wenige Zentimeter vor dem anderen Fahrzeug zum Stehen.
Joe zitterte am ganzen Körper, während Richie ausstieg und wütend die Tür zuschlug. Joe nahm Richies Handy, das auf den Wagenboden gefallen war, sprang ebenfalls aus dem Wagen und rannte los. Ringsum eilten die Menschen zu ihren Autos und kämpften mit den Schirmen gegen Wind und Regen an. Die Fahrer blendeten die Scheinwerfer auf und hupten.
Noch im Laufen drückte Joe auf Wiederwahl und suchte Franks Telefonnummer. Regen spritzte auf das Display. Joe wischte mit den Fingern darüber und überflog die Liste der von Richie geführten Telefonate. Ohne eine Sekunde zu verharren, rannte er an der Kirchentreppe vorbei, wo sich eine Menschenmenge gebildet hatte. Joe rannte daran vorbei. Als er mit dem Arm gegen die brennende Zigarette eines Mannes stieß, stoben Funken in die Luft. Hinter ihm fluchte jemand. Dann lichtete sich die Menge, und er holte Richie ein, warf sich nach vorn, packte Richies Beine und riss ihn um. Schwer stürzte Richie auf den nassen Asphalt. Joe zerrte ihn auf den Rücken und verpasste ihm einen wuchtigen Faustschlag.
Die Haut an Richies linkem Auge platzte auf, und sein Körper erschlaffte.
Shaun hörte die heulenden Sirenen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Vor dem Leuchtturm flackerte ein Blaulicht. Er hörte, wie ein Motor abgestellt wurde, und vernahm Rufe und Schreie, die sich rasch näherten.
Während Joe, keuchend vom schnellen Lauf, auf den bewusstlosen Richie hinunterstarrte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Mit einem Mal deutete alles, was er über Richie Bates wusste, auf eine unfassbare Wahrheit hin: Richies Wut, als er, Joe, sich in die Ermittlungen im Mordfall Katie eingemischt hatte … Rays beiläufige Bemerkung, dass Richie den Eindruck gemacht hatte, unter Drogen zu stehen, als er auf der Straße die Nerven verloren hatte … Richies hysterische Reaktion, als Joe ihn einen Monat nach Katies Tod am Mariner’s Strand überrascht hatte …
Vermutlich war Richie einen Monat zuvor schon dort gewesen und hätte im nächsten Monat wieder dort gestanden. Ein regelmäßiges Treffen mit einem Dealer, dem er einen Tipp geben konnte. Vor dem geistigen Auge sah Joe Katie
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