Schattenwandler 01. Jacob
dass Elijah ihn wieder zur Vernunft hatte bringen müssen. Und jetzt kam auch noch dieses Missverständnis dazu. Niemand konnte mit dem Vollstrecker härter ins Gericht gehen als er selbst. Und Noah war überzeugt, dass Jacob seine Selbstbeherrschung zurückgewinnen würde.
„Entschuldigt mich, ich muss mir etwas anziehen“, erklärte Noah höflich. Er warf seiner Schwester einen Blick zu und wusste, dass sie keine Angst hatte, mit den beiden allein zu bleiben. Einfach von der Bildfläche zu verschwinden war im Moment wahrscheinlich das Beste, obgleich er schnell wieder zurückkehren würde. Er wusste, Legna hatte begriffen, dass sie Isabella sanft aus Jacobs Armen lösen sollte, um seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, die durch ihre Nähe nur noch verstärkt wurden. Wenn Noah das versuchen sollte, würde er dabei wahrscheinlich einen Arm verlieren.
Der König verwandelte sich schlagartig in eine wirbelnde Wolke aus Rauch. Sie glitt zur Treppe, die zu den Räumen im Nordflügel der Burg führte.
Legna hatte sich bereits überlegt, wie sie die Sache angehen wollte.
„Bella“, sagte sie und benutzte instinktiv den Kosenamen, den Jacob ihr gegeben hatte. „Wie gefallen dir die Sachen, die ich dir geliehen habe?“
Bella trat so weit hinter Jacob hervor, wie die besitzergreifende Hand auf ihrer Hüfte und der Arm um ihren Oberkörper es zuließen, damit sie die andere Frau sehen konnte.
„Es ist sehr bequem“, erwiderte sie. „Du musstest sicher alles viel enger machen.“
„Unsinn“, winkte Legna ab. „Kleidung ist leicht auszutauschen, und ich freue mich, dass ich helfen konnte.“ Ihre Augen funkelten belustigt. „Außerdem, hätten wir dich nackt herumlaufen lassen, hätten sich die Männer womöglich noch auf eine Liane geschwungen, sich auf die Brust getrommelt und vielleicht auch noch ihr Revier markiert.“ Legna rümpfte die Nase und schüttelte sich leicht.
„Jetzt reicht es wirklich, Magdelegna.“
Der Tadel klang hundertprozentig nach Jacob. Isabellas Herz machte einen glücklichen Sprung, eine Flut von Gefühlen der Erleichterung überlief sie, bis Jacob leise lachte. Er stieß einen langen Seufzer aus, schloss kurz die Augen, und seine unvernünftigen Impulse kamen zur Ruhe, als Noah ging. Zurück blieb ein brennendes Gewissen und ein leises Bedauern, als er an sein primitives Verhalten dachte. Er sah auf Bella hinunter, ihr dunkler Kopf war zur Seite gelegt, damit sie an seinem Arm vorbei mit Legna sprechen konnte. Er machte sich Gedanken, was sie nun wohl von ihm denken würde. Ihr Geist war nur erfüllt von Erleichterung und von ihrem heiteren Gespräch mit Legna. Einen weiteren Hinweis fand er nicht.
Jacob ließ den Arm sinken, mit dem er sie festgehalten hatte. Seine langen schlanken Finger zuckten leicht, als wolle er Isabella unwillkürlich berühren. Die Miene des Vollstreckers wurde grimmig, und er fluchte leise in seiner Muttersprache, bevor er sich von Isabella abwandte, um sicheren Abstand zwischen sie beide zu bringen. Sein Verstand arbeitete wieder zuverlässig. Er wusste, dass Noah genauso schnell wieder zurückkehren würde, wie er verschwunden war. Und Jacob wusste, dass er sich selbst von ihr zurückziehen, dass es seine eigene Entscheidung sein musste. Andernfalls stand ihm eine weitere Auseinandersetzung bevor. Auch wenn es sich um ein Missverständnis gehandelt hatte, war er doch nicht in der Lage gewesen, seine Gefühle zu äußern wie ein zivilisiertes, intelligentes Wesen, und das war ihm noch nie passiert. Dies, so begriff er, war der boshafte Humor des Heiligen Mondes. Während einer schwierigen Jagd oder während einer Schlacht hatte er schon hin und wieder einen kurzen Blick auf das Tier in ihm erhaschen können, aber trotzdem war sein Vermögen, logisch zu denken und listig zu sein, immer stärker gewesen und hatte seine Geschicklichkeit im Kampf bestimmt. Noch nie war es vorgekommen, dass er so vollkommen jegliche Besonnenheit und Rücksicht verloren hatte. Doch er empfand nicht wirklich Bedauern für das, was geschehen war. Es war eher ein Triumph, der seinen Geist prickeln ließ, das Gefühl, verteidigt zu haben, was ihm gehörte, und in diesem Erfolg wollte er sich sonnen. Doch dann spürte Jacob, dass die Verantwortung die Oberhand gewann. Er konnte nichts dagegen tun, er konnte das Gefühl nicht verscheuchen.
Isabella war immer noch in ein harmloses Gespräch mit Legna vertieft. Sie trat nah zu der schönen Frau hin, die größer war als sie,
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