Schattenwandler 04. Damien
sein, Syreena. Ich bin dir neben deiner Schwester am nächsten.“
Er hatte vollkommen recht, stellte Syreena verärgert fest. Obwohl er ein Fremder war, konnte er so gut in sie hineinschauen. Sie fühlte sich dadurch noch verwundbarer, ein Gefühl, das sie an sich verachtete. Sie hasste es, wenn sie in irgendeiner Situation schwach war.
Aber warum sollte ich nicht auch einmal schwach sein?, dachte sie bitter. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie bewiesen, dass sie alles andere als schwach war.
Damien wusste, dass ihr Selbstvertrauen erschüttert war. Er hatte es von der Sekunde an gewusst, als er sie wie einen kranken, verängstigten Welpen in der Ecke gefunden hatte, verletzt und blutend und am Boden zerstört. Es gab nichts, wofür sie sich schämen musste, sie verstand das nur nicht. Sie begriff nicht, dass Ruth jedem von ihnen so etwas hätte antun könne n – Noah, Siena, selbst ihm.
„Syreena, gib dir nicht die Schuld, dass du zum Opfer geworden bist“, sagte er ruhig.
„Was weißt du schon über meine Schuld und über meine Gefühle?“, blaffte sie plötzlich mit Bitterkeit. Sie glitt wütend von dem Stein und stolperte, als sie auf dem Boden aufkam. Instinktiv streckte er eine Hand aus, um sie zu stützen, doch sie stieß ihn weg. „Hör auf, mir helfen zu wollen! Die Rettungsaktion ist vorbei. Du hast deine Pflicht meiner Schwester gegenüber erfüllt. Du musst nicht mehr so nett zu mir sein!“
Sie stapfte davon, doch er folgte ihr auf dem Fuße.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass ich deine Schwester im Sinn hatte, als ich beschlossen habe, dir zu folgen“, hielt er ihr entgegen.
Auf die Bemerkung hin blieb sie stehen. Sie fuhr herum, und ihre verschiedenfarbigen Augen verengten sich vor Misstrauen und Wut.
„Versuch nicht, mich zu bevormunden!“
„Mir war nicht bewusst, dass ich das getan habe.“
„Warum tust du das? Warum bist du immer noch hier? Warum läufst du mir jetzt nach? “
„Weil man dir anscheinend nachlaufen muss. Man muss dich beschützen. Und wie du selbst gesagt hast, du brauchst es, gebraucht zu werden.“
Damien begriff, weshalb sie auf einmal so überrascht schaute. Er wusste nicht, weshalb er den letzten Satz gesagt hatte.
„Auf welche Weise könntest du mich denn brauchen?“
Die vielfältigen Antworten, die Damien durch den Kopf schossen, brachten sogar einen Vampir zum Erröten. Woher das kam, wusste er auch diesmal nicht, aber es war da, hell und glasklar. Es war ein Instinkt, und er hatte zu lange mit seinen Instinkten gelebt, als dass er diesen jetzt ignorieren könnte.
„Wie soll jemand eine Antwort darauf finden, wenn du weiter davonläufst?“, sagte er stattdessen.
„Bemitleide mich bloß nicht, nur weil ich dich vorhin vollgeheult habe. Ich bin kein kleines, schwaches Mädchen, dem man den Kopf tätscheln und das man loben muss.“
„Jeder braucht Lob. Und wenn du ein Schwächling wärst, Syreena, würde ich dich verachten und bestimmt nicht bemitleiden. Ich habe nämlich eine sehr niedrige Toleranzschwelle bei Leuten, die herumsitzen und heulen und darauf warten, dass jemand sie rettet.“
Als sie nicht gleich wieder wütend wurde, wusste Damien, dass sie im Grunde mit ihm einig war. Sie stammelte etwas und suchte nach einer Möglichkeit, ihren Zorn am Kochen zu halten. Es fiel ihr schwer, weil sie eigentlich nicht auf ihn wütend war und er somit nicht die richtige Zielscheibe war.
Es verblüffte ihn, wie sehr sie in dieser Hinsicht ihrem Vater ähnlich war.
„Das stimmt nicht!“, wehrte sie, erneut wütend, ab. „Sag das nie wieder!“
„Ich habe nichts gesagt“, erwiderte er. „Ich habe nur gedacht. Wenn ich meine Gedanken hätte teilen wollen, hätte ich dir den Zugang dazu erlaubt.“
Was er ihr verschwieg, war sein Erstaunen darüber, dass sie dazu überhaupt in der Lage war. Nur ganz wenige Wesen konnten seine gut geschützten Gedanken lesen, und manche nicht einmal dann, wenn sie seine Erlaubnis hatten. Wie hatte sie das gemacht? Lykanthropen waren keine Telepathen. Sie konnten Dinge nur durch Schwingungen und durch einen recht ausgeprägten sechsten Sinn erfassen. Angesichts ihrer heftigen Reaktion musste Syreena beinahe jedes Wort erfasst haben.
Sie war einen Moment lang ebenfalls verwirrt, und ihre Miene verriet ihm, dass sie selbst herauszufinden versuchte, wie sie so etwas geschafft hatte.
„Jedenfalls meinte ich dein Temperament und nicht deinen Wesenskern“, erklärte er ruhig, während er sie
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