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Schattenwesen

Schattenwesen

Titel: Schattenwesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rauchhaus
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Cyriel. Irritiert trat ich einen Schritt zurück. Etwas an ihm war anders als in Wirklichkeit: Ich fand hier keine Anzeichen von Wut und Düsternis. Stattdessen spiegelten seine grünen Augen Stolz wider, der von Traurigkeit überdeckt wurde. Ein Stolz, der sich auch in seiner Körperhaltung ausdrückte. Wie immer wirkte Cyriel wie ein Wolf kurz vor dem Sprung. Auf dem Fresko sah er sehr gut aus – was mir in der Realität nicht gleich aufgefallen war. Vielleicht weil er mich ständig so reizte, bis ich die Krallen ausfuhr. Hier gefiel er mir – denn hier konnte er nur attraktiv schweigen. Ich nahm meine Lupe vom Materialtisch und betrachtete seine verblüffendunpassende Armbanduhr genauer, eine hochmoderne Digitaluhr mit einem schwarzen Armband. Die Marke konnte ich nicht erkennen.
    Ruben Nachtmanns Blick war in die Ferne gerichtet, als hätte er eine Vision. Sein Ärmel fiel in weiten Falten über seine Hand, doch er hielt nichts darin, deshalb wandte ich mich seinem Mantel zu. Er war sehr weit, sehr prächtig und hatte einen Pelzbesatz – eindeutig der Mantel eines mächtigen Mannes.
    Als ich mich fast schon Richard und Antonia zuwenden wollte, fiel mir auf, dass Rubens Pelz am unteren Saum etwas hervorstand. Ich bückte mich und zog wiederum die Lupe hervor.
    »Was ist denn das?«, murmelte ich. »Du hast ja Augen! Also, was bist du?«
    »Ein Eichhörnchen«, erklang eine Stimme hinter mir.
    Zu Tode erschrocken sprang ich auf – und sah in Cyriels Gesicht. Diesmal das echte.
    »Wie lange sind Sie schon hier?«
    »Lange genug«, sagte er, während er noch näher kam und dicht an mir vorbei zum Fresko ging. »Ich habe gesehen, dass Sie sich Notizen machen. Und dass es dabei nicht um Schmutzpartikel oder Fissuren geht.«
    »Ist das verboten?«, fragte ich, weil ich wieder eine seiner wütenden Zurechtweisungen erwartete.
    Aber als er sich zu mir umwandte, zuckten seine Mundwinkel amüsiert. »Nein. Mich interessiert nur, was Sie entdeckt haben.«
    War das ein Test? »Sie kennen das Bild viel besser als ich. Verraten Sie mir, warum Ihre Figur eine Armbanduhr trägt?«
    »Weil der Maler sich schon immer eine richtige Uhr gewünscht hat?«, schlug er vor.
    Ich musste lachen. »Und Sie glauben, er wollte dieses Fresko dem Weihnachtsmann schicken?« Dann wurde ich wieder ernst. »Wann hat denn der letzte Restaurator daran gearbeitet? Digitaluhren kamen so in den Siebzigern auf, soweit ich weiß.«
    Cyriel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, das war vor meiner Zeit in diesem Haus.«
    »Erstaunlich«, fand ich. »Immerhin sind Sie mit auf dem Bild. Und niemand sieht viel jünger aus als heute. So alt können die Übermalungen also nicht sein.«
    »Nein, die wurden erst vor Kurzem hinzugefügt«, nickte Cyriel.
    »Dafür sieht die Farbe aber sehr alt aus«, fand ich. »Und noch etwas. Die Perspektive stimmt nicht. Gerade eben – als ich mich im Raum bewegt habe – ist mir klar geworden, was der Grund dafür ist: Die Schatten der Menschen zeigen in Richtung Tür. Die Schatten der Gegenstände in die andere Richtung.«
    Cyriel hob die Augenbrauen. »Vielleicht hatte der Maler Probleme mit der Rundung des Raums?«
    »Möglich«, gab ich zu, obwohl es unwahrscheinlich war. »Und noch ein interessantes Detail: In der Landschaft vor einem der Fenster gibt es einen dunklen Fleck.« Ich deutete darauf. »Unter der Lupe besehen ist es ein kleiner Junge, der am Fluss steht. Er schützt sein Gesicht mit der Hand vor der Sonne und sieht dabei in die Ferne.«
    Cyriel nahm die Lupe vom Tisch und besah sich die Stelle genauer, die ich ihm gezeigt hatte.
    »Tatsächlich! Sie haben erstaunlich gute Augen«, stellte er fest.
    »Nein. Aber meine Hightech-Ausrüstung ist ein bisschen besser als Ihre Pfadfinderlupe«, lächelte ich.
    Cyriel warf mir einen unergründlichen Blick zu. »Pfadfinder?« Auf einmal lachte er. »Dann haben Sie also keine so guten Augen – aber eine ziemlich scharfe Zunge.«
    Da das seltsamerweise wie ein Kompliment klang, widersprach ich ihm nicht.
    »Das erklärt aber noch nicht, warum Sie diese Details im Bild nachts ansehen.«
    »Ich brauche beim Arbeiten manchmal das Alleinsein«, erklärte ich. »Die Stille hier unten und das besondere Licht … Das ist, als ob das Bild zu mir sprechen könnte.«
    Er nickte. »Das kann ich verstehen. Ich stehe oft in diesem Raum und lasse die alten Farben, die Stimmung und das Licht in den Fenstern einfach auf mich wirken. Man muss ein Gemälde atmen können, wenn

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