Schattenwesen
ich müde genug war!
Jessy
Manche dieser Menschen hatten Pfade. Wie Raubtiere im Zoo. Sie liefen immer wieder die gleichen Gänge entlang und wendeten an den gleichen Stellen. Dabei glitten ihre Finger über die Wände und sie murmelten etwas. Jessy glaubte an ihren Stimmen zu hören, dass ihre Köpfe ständig in Bewegung waren, als suchten sie etwas Bestimmtes.
Manche Menschen aber waren weniger eingefahren. Sie gingen nicht immer die gleichen Wege und sie erreichten auch entlegenere Orte.
»Gestern war ich im Turm«, zischte eine Stimme einer anderen gerade zu. Die andere wartete fragend ab. »Dort gibt es Fenster. Aber sie sind viel zu hoch«, fuhr die Stimme fort. Es war eine Frau.
Jessy ging näher heran. Bisher hatte ihr niemand verständliche Antworten auf ihre Fragen gegeben, aber hier schien eine zu sein, die nicht so geistig abwesend war wie die anderen.
»Wo sind wir?«, fragte Jessy. »Und wie komme ich hier wieder raus?«
Die Frau schwieg. Aber sie schwieg in Jessys Richtung, als würde sie sie intensiv ansehen, während die andere Person schlurfend verschwand.
»Du bist wohl neu? Wir suchen alle den Ausgang. Manche von uns bereits sehr lange.«
Jessy runzelte die Stirn. »Wer sind die Menschen hier? Ist das ein Heim? Oder sind sie Gefangene?«
»Heim!«, lachte die andere auf. »Gefangene trifft es wohl eher.«
»Ich dachte nur, weil hier so viele alte Leute leben«, sagte Jessy, doch gleich darauf tat es ihr leid. Schließlich klang diese Frau vor ihr auch schon älter. »Entschuldigung!«
»Warum entschuldigst du dich? Ich bin achtzehn. Ich heiße übrigens Lara.«
Jessy schwieg verblüfft. Sie selbst war siebzehn, aber diese Stimme klang eher wie sechzig.
»Wo bist du denn reingekommen?«, fragte die Frau nun und legte eine Hand auf Jessys Handgelenk. Eine faltige Hand. »Würdest du die Tür wiederfinden? Kannst du sie mir zeigen?« Der Griff wurde fester und Jessy entzog sich ihm ruckartig.
»Ich bin in dem Raum neben dem Speisesaal angekommen. In dem mit den Säulen.«
»Da gibt es keine Tür!«, schnaubte die Frau enttäuscht. »Aber warum frage ich auch eine Blinde nach dem Weg!«
Kira
Es brannte kein Licht. Erleichtert, dass ich hier unten allein sein würde, entzündete ich eine Fackel, und als das nicht gleich klappte, stellte ich mir die Frage, warum um Himmels willen diese Familie keine modernen Taschenlampen bereitlegte. Die Antwort konnte ich mir gleich darauf selbst geben, als ich den Steingang entlangging.
Die Stimmung! War es nicht erstaunlich, wie stark Stimmungen von der Art der Beleuchtung abhingen? Neonlicht oder Kerzenlicht. Tageslicht oder Straßenlaternen. Taschenlampen oder Fackeln. Da lag eine ganze Tonleiter der Gefühle dazwischen! Und ich war Herrn Nachtmann mit einem Mal dankbar, dass er dem Fresko diesen emotionalen Rahmen gegeben hatte. Allein der Weg zum Bild bereitete den Betrachter vor, machte ihn langsamer – und kleiner.
Allein mit dem Bild zu sein, war anders. Noch magischer als beim ersten Mal im Kreis der anderen. Insgesamt vier Fackeln steckte ich in ihre Halterungen und sah das Gemälde vermutlich so, wie der Maler es damals gesehen hatte. Die oberste Regel – untersuche das Werk bei Tageslicht – konnte in diesem Fall nicht gelten. Dieses Bild hatte nie Tageslicht gesehen und ich wollte die Stimmung seines Entstehens nachempfinden. Mit dem Finger fuhr ich die Linien, den Schwung der Gewänder nach. Wie lebendig die Figuren wirkten!
Auf einmal stand ich vor der strengen Katharina. Ihr Blick hatte selbst auf dem Fresko eine gewisse Schärfe und ihr Mund war übertrieben blass gemalt. Katharina, die Stumme. Ob der Maler das mit dem kaum vorhandenen Mund ausdrücken wollte?
Jolanda gehörte zwar zu den Erwachsenen, wurde aber sehr zerbrechlich und kindlich dargestellt. Wann mochten die Gesichter übermalt worden sein? War Jolanda damals noch ein Kind und man hatte ihr Gesicht auf eine erwachsene Figur gesetzt, weil kein Kind da war? Aber warum waren die anderen auch nicht viel jünger als heute?
Gabriels Gegenstück stand lässig, aber irgendwie bemüht selbstbewusst da. Seine Mundwinkel schienen zu zucken, als hätte er gerade einen Witz gemacht. Dennoch hatte ich das Gefühl, ich müsse seinem Blick ausweichen, und starrte auf seine Schuhe. Seltsam, daneben, am untersten Bildrand, lag ein Gemüse, eine Rübe oder ein Rettich. Ob Gabriel gern kochte? Schlechter als Antonia konnte es ihm eigentlich nicht gelingen.
Der Nächste war
Weitere Kostenlose Bücher