Schattenwesen
fuhr er fort, als hätte er mich nicht gehört. »Es darf nichts zerstört werden!«
Zerstört? Meine Wut lief zu Bestform auf.
»Schade. Ich wollte eben meinen Presslufthammerholen, um Teile des Freskos herauszuschlagen und oben in der Sonne zu betrachten. Oder meinen Sie, ein Stemmeisen reicht aus?«
Immerhin hatte ich erreicht, dass Cyriel mich ansah. Zum ersten Mal an diesem Morgen. Seine Augen waren zwar dunkel, aber nicht voll Wut wie meine.
»Ich habe Ihnen keine mangelnde Vorsicht unterstellt«, sagte er mit sanfter Stimme. »Mir liegt nur sehr viel an diesem Bild.«
Als er die Tür leise hinter sich schloss, zischte Anna: »Warum musst du immer gleich so hochgehen? Typen wie Gabriel magst du damit vielleicht beeindrucken …«
»Ich dachte, du willst nicht, dass ich Cyriel beeindrucke?«, erwiderte ich. »Und ich gebe mir die größte Mühe, deinem Wunsch zu folgen.«
Anna setzte sich etwas beleidigt wieder an den Materialtisch und begann testweise eine Farbe anzumischen. Während sie konzentriert arbeitete, kämpfte ich mit einer besonders widerspenstigen Stelle, die sich nicht festigen lassen wollte – bis ich merkte, dass der Hohlraum darunter größer war, als ich gedacht hatte. Also mischte ich neuen Kalkputz, setzte einen weiteren Schlauch auf die Injektionsnadel und verfüllte den Raum unter dem Riss, so vorsichtig es mir möglich war.
Als die Tür sich zwei Stunden später öffnete, blickte ich verdutzt auf die Uhr. War es schon Mittag? Mir kam es vor, als hätte ich gerade erst angefangen.
Cyriel trat ein und begutachtete mein Werk genau. Suchte er nach Fehlern?
»Gute Arbeit!«, nickte er schließlich und lächelte mich an.
»Ich habe ein paar Farben geprüft und für Jolandas Gewand hier ein Verdeterra mit Weiß aufgehellt«, mischte Anna sich ein, die sich tatsächlich schnell auf das Thema Fresko eingestellt hatte. Aber musste sie sich immer in den Vordergrund spielen? Cyriel nickte ihr bewundernd zu, als hätte sie Blattgold auf einen Heiligenschein aufgetragen.
»Eine Bitte hätte ich noch«, sagte ich und hielt meine Digicam hoch. »Für die Arbeit an den Gesichtern wäre es sicherlich hilfreich, wenn wir die Familienmitglieder fotografieren könnten.«
Cyriels Freundlichkeit fiel von ihm ab wie ein Vorhang und seine Blicke durchbohrten meine unschuldige Kamera. »Keine Fotos in diesem Haus!«
Als ich vor seiner schneidenden Stimme zurückschreckte, bemerkte er offensichtlich seine unnötige Heftigkeit.
»Bitte! Wir mögen Fotos nicht gern. Und ich bin sicher, dass Sie auch ohne technische Hilfe die Gesichter wiederherstellen können, die ja schon auf dem Bild vorhanden sind. Sie müssen ja nichts Neues hinzufügen.«
Ich nickte möglichst ruhig, obwohl ich langsam das Gefühl bekam, dass die ganze Familie einen leichten Schuss hatte. Jeder auf seine Weise.
»Aber meine Arbeit muss ich fotografieren! Das ist eine übliche Maßnahme, bevor man anfängt.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber nur das Fresko! Keine Personen!«
Ich seufzte. »Für Annas Arbeit wäre es einfacher … aber gut. Haben die Herrschaften Angst, ihre Frisur könnte nicht richtig sitzen? Oder sie könnten ein Doppelkinn haben?«
Cyriel schüttelte den Kopf. »Keine Diskussion. Undwenn Sie ein Problem damit haben, wenden Sie sich an Ruben.«
Auf dem Weg zum Mittagessen verabschiedete Cyriel sich natürlich bereits wieder vor seinem Arbeitszimmer. Kaum war seine Tür zu, zischte Anna mich an: »Solange ich heute Morgen mit ihm allein war, war er ganz handzahm. Eine Stunde länger und er wäre mit mir ausgegangen!«
Was für eine Vorstellung! Cyriel an einem Bartresen, in der Hand einen bunten Cocktail mit einem Glitzerschirmchen.
»Träum weiter!«, kicherte ich. »Den kriegst du nicht mal dazu, sich mit dir vor den Fernseher zu setzen.«
»Schon passiert«, gab Anna zurück. »Gestern, spätabends.«
Ich blieb so ruckartig auf der Leiter stehen, dass Anna fast das Gleichgewicht verlor. »Nicht im Ernst!«, bemühte ich mich um einen trockenen Kommentar, obwohl es mir einen Stich versetzt hatte.
Anna lächelte triumphierend. »Meine Fernbedienung hat nicht funktioniert. Und weil Cyriel die Fernseher doch für uns aufgestellt hat, dachte ich …«
Ich holte tief Luft. »Da holst du mitten in der Nacht, weil dir nach einer Talkshow zumute ist, den Assistenten des Hausherrn zu dir ins Zimmer? Weißt du eigentlich, dass ein Fernseher auch ohne Fernbedienung funktioniert?«
Annas Blick war
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