Schattenwesen
dem dunklen Vorhang hervorkam, war ziemlich jung, nicht viel älter als ich. Freundlich strahlteer mich an. Als ich ihm erklärt hatte, was mit meiner Kamera nicht stimmte, nahm er sie entgegen und machte ein Testfoto von mir. Das betrachtete er und zuckte mit den Schultern.
»Hier ist jetzt nichts zu sehen. Darf ich die betreffenden Fotos anschauen – oder sind sie privat?«, fragte er sehr rücksichtsvoll.
Ich klickte die Bilder durch und zeigte ihm schließlich das Galeriebild mit den ungewöhnlichen Schatten.
»Kann so etwas durch Feuchtigkeit entstehen? Oder wenn die Kamera vielleicht mal runtergefallen ist?«, fragte ich und hoffte auf sein Nicken. Meine größte Angst aber war, dass er sagte, er könne keinen Schatten auf dem Foto sehen.
»Ist schon merkwürdig«, murmelte er und hielt das Display in verschiedenen Winkeln vor sein Auge. »Wenn es ein analoges Bild wäre, würde ich behaupten, die Kamera hätte doppelt belichtet, weil der Film nicht weitertransportiert wurde. Aber bei einer Digitalkamera scheint mir dieser Fehler sehr unwahrscheinlich. Haben Sie noch ein Beispielbild?«
Ich nahm die Kamera und klickte weiter. Bei einem Foto, auf dem ich das Haus von außen aufgenommen hatte, hob er die Augenbrauen.
»Das Geisterhaus? Dann wundert mich gar nichts mehr. Wohnen Sie da?«, fragte er mit einem breiten Grinsen.
»Was meinen Sie damit? Geisterhaus?« Sein Interesse an meiner Adresse ignorierte ich.
Immerhin hatte er meine partielle Taubheit bei diesem Thema wohl bemerkt und hob abwehrend die Hand. »Entschuldigung, das geht mich natürlich nichts an. Aberseit ich denken kann, haben da ein paar Spinner gewohnt, die mit anderen Leuten nichts zu tun haben wollten und die nie vor die Tür gingen. Einmal haben sie einen Handwerker bestellt. Der hat vielleicht verrückte Geschichten erzählt.«
»Was denn genau?« Jetzt wurde ich doch hellhörig. Waren meine und Annas Geister vielleicht wirklich welche?
»Ach, vergessen Sie’s, Sie wollen sich in Ihrem neuen Haus doch nicht mit alten Geschichten von den Vorgängern belasten. Jedenfalls ist es beruhigend, zu hören, dass Neue dort eingezogen sind – noch dazu so nette!« Er zwinkerte mir zu.
»Nein, ich bin nur Gast bei den ›Spinnern‹«, erwiderte ich. »Aber mit der halben Geschichte können Sie mich jetzt nicht stehen lassen.«
»Na ja, der alte Herr Kuhlen, der Klempner … also, auf seine Geschichten muss man nichts geben. Er hat damals behauptet, er hätte bei der Arbeit hinter sich jemanden gespürt, obwohl niemand da war. Und aus den Rohren im Bad will er schaurige Stimmen gehört haben.«
Ich sah ihn wie erstarrt an. Allerdings nicht, weil ich geschockt war – sondern weil ich auf eine Schattengeschichte gehofft hatte und von der Handwerker-Story ein bisschen enttäuscht war. Sie war zwar schön gruselig, aber sie klang nicht sehr realistisch und lieferte mir keine Erklärung für meine Wahnvorstellungen.
»Und Sie sind sicher, dass die Kamera in Ordnung ist?«, lenkte ich den Verkäufer wieder zurück aufs Thema.
Er zuckte mit den Schultern, machte noch mal ein Testbild gegen das Licht des Schaufensters und betrachtete das Ergebnis.
»Bei der heutigen Technik kann man das nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, aber ich denke, die ist okay«, erklärte er und reichte mir die Digicam. »Vielleicht waren diese Schatten auch wirklich da? Durch Sonneneinstrahlung, Wolken oder so?«
Wenn ich das nur wüsste, fuhr es mir durch den Kopf.
»Nicht so ernst nehmen«, beruhigte er mich. »Das Haus ist sicher vollkommen in Ordnung. Man redet eben gern darüber, weil es auf den Ruinen einer alten Burg errichtet wurde, die die Dörfler schon im Mittelalter niedergebrannt haben. In manchen Kulturen baut man nicht auf zerstörten Städten – um die Geister in Frieden ruhen zu lassen.«
Er lächelte und schob mir die Kamera genau vor die Finger, da ich sie immer noch nicht zurückgenommen hatte. Kein Wunder, sie kam mir gerade vor wie ein Ding aus einer anderen Welt.
Als ich zurückkehrte, war Anna nicht mehr da.
Zunächst machte ich mir keine Gedanken. Ich ging ins Esszimmer, wobei ich wohl etwas zu spät zum Mittagessen kam. Antonia wartete bereits mit Fisch und Kartoffeln auf mich. Wie sie so dastand, in ihrem geblümten Kleid mit der gestärkten Schürze, hätte sie eine gute Werbepuppe für ein Wachsfigurenkabinett abgegeben, Abteilung neunzehntes Jahrhundert. Und sie wirkte, als hätte sie in dieser Haltung bereits lange und geduldig
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