Schattenwesen
sollte ich es restaurieren – und Anna es übermalen. Wir sollten euer äußeres Erscheinungsbild aufpolieren! Und jetzt lauft ihr in der Stadt herum und holt euch Nachschub an Jugendlichen? Weil sie die besten Batterien haben?«
Cyriels Finger spielten mit einem Glasspatel, den er dabei sehr intensiv betrachtete. »Nicht wir. Ruben!«
»Wäre es nicht einfacher für ihn, wenn ihr ihm helfen würdet?«, fragte ich, weil ich an Cyriels Unschuld noch immer nicht glauben konnte.
Er nahm den Glasspatel nun in beide Hände und plötzlich knackte er in der Mitte durch. Splitter schienen ihm in die Haut zu dringen, aber kein Blut floss. Vermutlich hatte er gar keines.
»Ich würde ihm dabei nicht helfen, selbst wenn ich das Haus verlassen könnte und dadurch ewig leben würde.« Er spuckte die Worte fast aus. »Glaubst du, es macht mir Spaß, immer und immer wieder Jugendlichen dabei zuzusehen, wie ihr Leben aus ihnen herausfließt? Wenn ich sie retten könnte, würde ich es tun! Aber was hilft es, wenn ich zehn von ihnen gehen lasse, die ohne ihren Schatten da draußen sowieso nicht lange überleben würden? Ruben würde einfach neue Schatten jagen, heute und morgen und in den folgenden Jahrhunderten!« Er funkelte mich an, aber darin lag keine Wut gegen mich. Langsam begriff ich, dass er um mein Verständnis bat, weil er sich schuldig fühlte. War das die Wurzel seiner Verbitterung, seiner düsteren Seite? Hatte ich ihn so falsch eingeschätzt?
»Aber du versorgst sie«, murmelte ich nachdenklich.
»Das ist das Geringste, was ich tun kann«, knurrte er. »Ich will nicht, dass sie leiden, aber natürlich tun sie das. Also habe ich Ruben erklärt, dass ihre Lebenskraft länger anhält, wenn es ihnen gut geht. Er hat mir erlaubt, mich um sie zu kümmern.«
Das Bild, das ich von dem Schattenwesen bei der »Fütterung« hatte, war aber ein ganz anderes gewesen. Meine Zweifel waren noch nicht ausgeräumt.
»Sie haben Angst vor dir«, flüsterte ich und ein Schauder rann mir über den Nacken, als ich mich erinnerte: Unter dem Tisch, selbst fast verrückt vor Angst, hatte ich ihre Erstarrung gespürt. Genauso wie bei meiner Ankunftin diesem Teil der Burg, als sie sich vor Cyriel hinter den Säulen versteckt gehalten hatten.
Er nickte. »Ich weiß. Anfangs hatten sie das nicht. Sie baten mich um Hilfe, ich sollte ihre Verwandten anrufen oder die Polizei. Sie flehten mich an, ihnen den Ausgang zu zeigen. Das war schwer für mich. Eines Tages griff mich Paul – der Bärtige, der auch dich verfolgt hat – mit einer Fackel an und wollte mich zwingen, ihn hinauszulassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm und allen anderen zu zeigen, dass er keine Chance hatte. Also ließ ich meinen menschlichen Körper fallen wie ein Kleidungsstück und bekämpfte ihn als Schattenwesen. Die Menschen gerieten in Panik und Paul ergriff die Flucht. Fast zwei Tage lang kam niemand zum Essen. Als sie wieder kamen, schwiegen sie in meiner Gegenwart, sie zitterten, wenn ich mich näherte, und versteckten sich vor mir, wenn nicht gerade Essenszeit war. Das war noch schlimmer als ihr Flehen. Andererseits hatten sie ihr Schicksal akzeptiert. Und ich weiß nicht, ob es nicht besser so ist. Hoffnung kann unglaublich wehtun, wenn sie immer wieder enttäuscht wird.«
Er machte mich wütend, obwohl ich ihm glaubte. »Meinst du nicht, dass sie ein Recht auf Hoffnung haben?«
Müde sah er mich an. »Als ich in dem Verlies saß und jeden Tag um mein Leben malte, habe ich jeden Tag einen Fluchtplan geschmiedet – und manchen Versuch unternommen. Aber es hat nie geklappt! In meiner Verzweiflung habe ich Symbole ins Bild gemalt, kleine Hinweise an nachfolgende Generationen. Und du warst auf der richtigen Spur.« Er lachte bitter auf. »Aber das reichte nicht aus, um dich zur Flucht zu bewegen.«
»Da habe ich dir tatsächlich nicht zugehört«, seufzte ich.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast alles richtig verstanden. Aber du hast Ruben vertraut. Warum solltest du gehen?«
»Was ist dann mit dir passiert?«, drängte ich ihn, seine Geschichte zu Ende zu erzählen.
»Als die Hoffnung starb, habe ich mich selbst gemalt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass ich hier nicht mehr lebend herauskommen würde.«
Seine Augen waren so dunkel und sein Blick so verletzt, dass es mir in der Seele wehtat.
»Und Nachtmann hat dir den Schatten abgeschnitten?«
Er nickte. »Ruben hat noch eine Weile überlegt, ob er mich töten soll, was er wohl
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