Schattenwesen
folgende Stille brachte mich fast um. Irgendwo in dieser Schwärze waren mindestens zweiPersonen. Und plötzlich glitt etwas an mir vorbei. Ich hielt den Atem an, bis ich glaubte, aus Luftmangel ersticken zu müssen. Vorsichtig begann ich wieder zu atmen. Nicht vorsichtig genug.
»Jetzt schleich da nicht so herum! Die Besuchszeiten sind für heute gestrichen!«, donnerte eine Stimme aus ein paar Metern Entfernung in meine Richtung.
Die Stimme klang nach Ruben Nachtmann. Verdammt, er hatte mich entdeckt! In Windeseile tastete ich mich an der Mauer entlang, tiefer in den Gang und stieß mir zweimal den Kopf auf meiner Flucht. In einer Nische kauerte ich mich zusammen, machte mich so klein wie möglich. Als ob das helfen würde!
Erst nach einigen Minuten stellte ich erleichtert fest, dass er mir nicht gefolgt war. Aber warum nur? Es dauerte einige weitere Minuten, bis ich begriff: Er hatte gewusst, dass sich ein Mensch im Gang versteckte, aber er hatte keine Ahnung gehabt, wer das war. Irgendeine Schattenlose auf ihrem Weg ins Nichts. Und hatte er nicht sogar recht damit?
Nur langsam wagte ich mich aus meinem Versteck heraus und näherte mich dem Schattenraum, den Kopf voll mit Theorien, was sie mit Cyriel angestellt haben mochten. Die Tür fand ich bald wieder. Bei der Berührung des Holzes begann erneut das Prickeln, das ich vorhin vor diesem Raum gespürt hatte. Hatte Jessy nicht erwähnt, dass es allen hier so ging? War das ein Zeichen, dass mein Schatten in der Nähe war?
Drinnen schaltete ich die Taschenlampe an.
»Cyriel?«, flüsterte ich, als könnten mich die anderen Schatten dann nicht hören.
Aber sie kamen. Sie kamen in Scharen, wirbelten auf mich zu und tanzten im Lichtkegel meiner Taschenlampe wie Fledermäuse. Skurril! Diesmal hatte ich keine Angst. Nein, ich fühlte mich sogar wohl bei diesen Wesen und war sicher, sie würden mir nichts tun. Erst seit ich ohne meinen Schatten leben musste, empfand mein Körper den Verlust.
»Du?«, flüsterte es direkt vor mir.
Erst jetzt bemerkte ich, dass einer der Schatten weniger wirbelte und vor mir stehen geblieben war. Er hatte den Umriss eines Mannes. Und doch zerflossen seine Konturen wie Rauch, um sich immer wieder neu zusammenzusetzen.
»Wie hast du mich gefunden?«
Seine Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt, aber dass sie nicht aus Cyriels Gesicht kam, machte sie dennoch fremd.
»Du hast doch gesagt, dass du meinen Schatten suchst«, erwiderte ich irritiert in die Richtung der dunklen Gestalt.
»Aber woher kennst du diesen Raum? Und die Tür …?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir alle hier unten spüren, dass hinter dieser Mauer ein Teil von uns begraben ist. Und die Tür zu öffnen war kein Problem. Du weißt doch, dass ich den Trick mit der Dunkelheit kenne.«
»Du hättest fliehen sollen, wie ich es dir gesagt habe!«, schimpfte Cyriel, aber ich hörte das Lächeln in seinen Worten.
»Glaubst du, ich laufe weg – ohne meinen Schatten?«, erwiderte ich.
»Ach so«, sagte die dunkle Gestalt und ich hörte seine Enttäuschung heraus.
»Außerdem … konnte ich dich doch nicht so zurücklassen«, erklärte ich leise. »Du hast dein sicheres Leben bei Ruben aufgegeben, um meins zu retten.«
»Ein sicheres Leben … das war es nie!«, flüsterte Cyriel.
»Aber es war wesentlich mehr als das hier!« Ich fuhr mit dem Arm durch die Luft. Dann hielt ich inne und versuchte in dem schwarzen Etwas seine Züge zu erkennen – was mir nicht gelang. »Was hat er mit dir gemacht?«, fragte ich zögernd, während ich einfach versuchte mir sein Gesicht vorzustellen. Hatte ich es nicht seit Tagen in meinem Gedächtnis gespeichert?
Die Gestalt schien zu flackern, sie bewegte sich unruhig hin und her. »Er hat mein Bild zerstört. Von heute an bin und bleibe ich ein Schatten. Ich habe nichts Menschliches mehr.« Seine Stimme klang kalt, als wäre etwas in ihm gestorben. Die Hoffnung?
»Und du wirst bald verblassen?«, flüsterte ich erschrocken.
»Weil du mir die Tür geöffnet hast«, erwiderte er, »ist es meine Wahl. Wenn ich hier hinauskomme und mich weiter wie ein Familienmitglied von der Lebenskraft der Schattenlosen ernähre, kann ich überleben. Bisher habe ich das getan, weil ich dachte, dass ich die anderen retten kann … Aber jetzt frage ich mich, ob ich sie nicht all die Jahre nur noch tiefer ins Unglück getrieben habe. In dieser Gestalt kann ich jedenfalls niemandem mehr helfen.«
Unvermittelt schwang er in eine Ecke und
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