Schattenwesen
Cyriel endlich einmal redete, würde ich ihm zuhören. Wie kam er darauf, dass ich das sonst nicht tat?
»Also: Dies ist nicht Rubens Geheimlabor. Es ist meins!«
Ich setzte mich und bemühte mich, meine Überraschung nicht zu zeigen.
»Bisher hat er diesen versteckten Raum nicht gefunden, deshalb denke ich, dass wir hier sicher sind. Zumindest eine Weile. Aber ich werde noch einige Male rausgehen müssen.«
»Was …?«, fing ich zögernd an.
»Keine Sorge, ich kenne mich hier unten am besten von uns allen aus, ich werde Ruben und seiner Familie also ausweichen können.«
»Sorgen? Um dich?« Ich lachte bitter auf. »Eigentlich mache ich mir mehr Sorgen um mich selbst. Bitte sag mir, was mit mir jetzt geschieht … ohne Schatten.«
Fast hatte ich mit einem Vorwurf wegen meiner Selbstsucht gerechnet, aber stattdessen studierte Cyriel gebannt die Tischplatte und sortierte offenbar vor, was er sagen wollte.
»Ich habe die Menschen da draußen gesehen«, bohrte ich nach. »Werde ich so wie sie? Ist es so, dass sie schneller altern und verwirrt werden … weil sie ihren Schatten verloren haben?«
Cyriel atmete tief ein und wich meinem Blick aus. »Im Prinzip ja«, sagte er, sah auf und griff nach meiner Hand.
Seine Hand fühlte sich weich und warm an. Wie konnte das nicht die Haut eines Menschen sein?
»Aber du darfst nicht verzweifeln. Ich werde deinen Schatten holen, sobald Ruben den Vorratsraum verlassen hat. Wenn dein Schatten in deiner direkten Nähe ist, kann eigentlich nichts … fast nichts passieren. Auf jeden Fall verzögert es das Altern. Und ich vermute, auch den Wahnsinn.«
Die Angst kehrte zurück. »Erklär mir bitte genau, wie das mit den Schatten funktioniert«, verlangte ich mit wackeliger Stimme.
»Bist du sicher, dass du das hören willst?«
»Habe ich nicht das Recht, zu erfahren, wozu ihr meinen Schatten benutzt?«
»Du solltest gar nicht hier sein«, flüsterte er kaum hörbar in Richtung Boden.
»Aber ich bin es«, sagte ich.
»Dein Schicksal und mein Schicksal – beide haben vor sehr langer Zeit ihren Anfang genommen, und wenn ich damals schon gewusst hätte … Nein, wahrscheinlich hätte ich es nicht verhindern können.« Er fuhr mit den Fingern durch sein Haar und beugte sich vor. Aber er schwieg.
»Wer oder was seid ihr?«, fragte ich ungeduldig. »Du hast gesagt, ich sollte dir zuhören. Das würde ich jetzt gern tun!«
»Das ist sehr schön«, nickte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Im Jahr 1572, als auf diesem Boden noch eine große Burg stand, lebten hier der Burgherr, seine Familie und viele Dienstboten, aber auch ein Alchemist.«
»Das klingt ein bisschen weit ausgeholt«, stöhnte ich. »Ich will keine Touristen-Info, ich will wissen, woher die Schatten kommen.«
»Genau darum geht es. Und Zeit haben wir genug«, sagte Cyriel. »Halt einfach dein Versprechen und hör zu!«
Ich seufzte. Und nickte.
»Dem Alchemisten war das Gerücht zu Ohren gekommen, dass sein Herr ohne sein Wissen einen neuen Alchemisten auf die Burg eingeladen hatte, und er vermutete, dass man ihn vielleicht loswerden wollte. Also nutzteer die Zeit bis zu diesem Besuch, um zu überlegen, wie er das Gespräch ungesehen belauschen könnte. Da es unter vier Augen in einem Turm stattfinden sollte, konnte er nicht einfach einen Diener bestechen. Sein blinder Ehrgeiz trieb ihn schließlich so weit, dass er schwarze Magie zu Hilfe rief. Er wusste viele Dinge, die ein Christenmensch nicht wissen sollte, und schmiedete ein Messer aus einem Metall, das noch nie zuvor jemand gesehen hatte. Damit schnitt er sich seinen eigenen Schatten ab – um ihn als Spion ungesehen durch die Burg schicken zu können. Dieser Spion drang wie gewünscht von außen durchs Fenster in das Turmzimmer ein, hörte die Unterredung ungesehen in einer Ecke mit an und kehrte danach zurück zu seinem Herrn. Der Alchemist erfuhr, dass er mit seinen Befürchtungen recht gehabt hatte. Er tobte zwei Tage lang in seinem Labor und suchte nach einem geeigneten Weg, den Widersacher auszustechen. Als er am zweiten Tag beim Waschen in seine Wasserschüssel sah, bemerkte er, dass er um Jahre gealtert war. Er begann zu begreifen und rief seinen Schatten, um einen Weg zu finden, sich wieder mit ihm zu vereinen. Aber sein Schatten hatte sich schon zu lange von ihm gelöst – er war ein Individuum geworden. Mit der Intelligenz und dem Ehrgeiz des Alchemisten versehen, war er ein gefährlicher Gegner. Und er hatte bestimmt nicht vor, sich
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