Schattenwesen
ursprünglich vorhatte. Aber ich habe mich angebiedert – ich Dummkopf!«
Er lief durch das Zimmer wie ein eingesperrtes Tier.
»Ruben gefiel der Gedanke, einen Assistenten zu haben, und ich verstand durch die Malerei ein ganz kleines bisschen von der Alchemie – zumindest mehr als sein hohlköpfiger Sohn Gabriel. Er hatte angefangen zu begreifen, dass er sehr lange sehr einsam sein würde. Mit einer Familie, die ihn hasste. Jeder Einzelne von ihnen wäre lieber gestorben, als die Ewigkeit mit ihm zu verbringen.«
»Wer sind diese Leute denn gewesen – in ihrem früheren Leben?«, fragte ich mit gerunzelter Stirn.
»Richard war der Burgherr. Aus Rache für den Verrat machte Ruben ihn, Antonia und ihre Tochter Jolanda zu seinen Dienstboten. Katharina war die Frau, in die er sich einst verliebt hatte. Als Alchemist hatte er sich erfolglos um sie bemüht und als Ruben Nachtmann wollte er sie zuseiner Frau machen. Aber sie sprach nie wieder ein Wort mit ihm. Seit über vierhundert Jahren!«
Die kühle und schweigsame Katharina, die ich nie hatte leiden können! Auf einmal imponierte sie mir.
»Gabriel war immer schon ein Taugenichts und Angeber gewesen, der bei den Frauen verblüffende Erfolge hatte.« Sein Blick blieb etwas zu lange an mir hängen. »Jedenfalls hat Ruben sie alle um sich geschart, weil er jemanden beherrschen wollte. Und sie hängen inzwischen an ihrer Unsterblichkeit – erstaunlicherweise.«
»Du nicht? Warum hast du dich dann mit dem Teufel verbündet?«, rutschte es mir heraus.
Cyriel musterte mich mit funkelnden Augen.
»Ja, das habe ich«, flüsterte er. »Und in dieser langen Zeit hatte ich immer einen Plan, mit dem ich den Teufel besiegen wollte. Ich … war nicht tatenlos. Nur erfolglos.«
Er wandte sich ab und nahm von einem Tisch ein leeres Glasgefäß mit Deckel. Seine plötzliche Eile ließ mich vermuten, dass das Gespräch mal wieder beendet war.
»Es wird Zeit, dass ich deinen Schatten hole«, sagte Cyriel und ging zielstrebig zur Tür, die ich jetzt zum ersten Mal richtig sehen konnte. Etwa dreißig Zentimeter dicker Stein schwang ihm knirschend entgegen. Auf der anderen Seite lag die Folterkammer, in der ich noch nie einen zweiten Ausgang bemerkt hatte. Diese Tür war eine Geheimtür! Keine, die nur im Dunkeln existierte, sondern eine ganz altmodische und ganz reale Geheimtür.
Cyriel schlüpfte mit seinem Glas in der Hand hindurch.
»Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, musst du fliehen. Durch die Tür, die du schon einmal genommenhast, und von dort durch Rubens Haustür hinaus. Es ist gefährlich, aber es ist der einzige Ausweg, den du auf Anhieb finden kannst! Verschwende keine Zeit!«
Die Wand schwang hinter ihm zu und gleich darauf starrte ich auf die Innenseite, die mit weißem Kalk verputzt war.
»Und wie lange kann ich ohne meinen Schatten überleben?«, fragte ich ins Nichts. Meine Stimme klang seltsam hohl und die Antwort hallte in meinem Kopf, obwohl sie niemand ausgesprochen hatte.
Kira
Meine Armbanduhr behauptete, es sei kurz nach fünf, während meine innere Uhr gar nichts mehr sagte. Die war völlig aus dem Takt, seit der Alltag – einschließlich Essen und Schlafen – zur Nebensache geworden war. Wie konnte man mit diesem Daueradrenalin nur überleben?
Ständig ging mir Cyriels Bemerkung durch den Kopf, dass er Pläne gegen Nachtmann hatte. Es hatte geklungen, als wäre es ihm sehr ernst damit. Aber was konnte man gegen ein Schattenwesen unternehmen? Noch dazu gegen einen Schatten, der nicht allein war? Wenn Cyriel recht hatte, dass den anderen ihre Unsterblichkeit wichtig war, dann würden sie sie im Notfall auch verteidigen.
Was konnte ein Schatten einem Menschen antun? Bei Cyriels Kampf mit Paul konnte ich sehen, wie viel Kraft er in dieser Gestalt besaß. Ich durfte Ruben Nachtmann also nicht unterschätzen. Aber noch wichtiger war die Frage: Was konnte ein Mensch einem Schatten antun? Meine Flasche war glatt durch ihn hindurchgegangen, er hatte seine Form nur kurz verändert. Ob Licht etwas bewirken würde? Vermutlich nicht, schließlich lebten diese Wesen ja im Tageslicht. Das machte auch Sinn. Licht erzeugt Schatten. Würden sie bei absoluter Dunkelheit leiden? Nein, Cyriel war mit mir im Stockdunkeln hierhergegangen und ich hatte ihn an meiner Schulter gespürt. Das war der falsche Ansatz …
Ganz unbewusst war ich im Raum umhergewandert und hatte Dinge in die Hand genommen, ohne darüber nachzudenken, wozu sie gut waren. Und dann
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