Schatz, schmeckts dir nicht
die Gefahren, in die sie sich begeben hatte, und alle Risiken, die sie nach wie vor einging? Bis zu Felix’ Ankunft im Herbst war allerdings noch genug Zeit, das Problem endgültig aus der Welt zu schaffen. Wahrscheinlich brauchte sie nur etwas mehr Geduld mit Jan. Die Zeit würde auch diese Wunde heilen, und eines Tages würde das Spieglein an der Wand die richtige Antwort geben.
Kapitel XI
Kein Lüftchen regte sich. Selbst im Schatten unter dem Sonnensegel gab es kaum Abkühlung. Schon seit Tagen hatte die Sonne die Stadt aufgeheizt, sodass die Reifen der Autos vor den Kreuzungen tiefe Spuren in den Asphalt der ohnehin schon reparaturbedürftigen Straßen der Hauptstadt gruben. Die Hausmauern hatten die Funktion von Nachtspeicheröfen übernommen. Das war typisches Berliner Wetter. Auf einen trockenen, eiskalten Winter folgte der ebenso trockene, heiße Sommer, und in der Zeit dazwischen war es ekelhaft. Die Meteorologen gaben dem Monat bereits das beliebte Prädikat, der heißeste Juli in Berlin seit Beginn regelmäßiger Wetteraufzeichnungen zu sein.
Die Temperatur in ihrem Dachgeschoss glich der eines Backofens. Aber Helene genoss die Hitze. Ihr bevorzugter Wohn- und Arbeitsplatz war die Terrasse. Die Kinder waren beide schon vor zwei Wochen abgereist, hatten ihre gute Ankunft gemeldet, und waren nun dabei, ihre neue Umgebung zu erkunden. Sie und Jan waren nach langen Jahren das erste Mal wieder auf ihre Zweisamkeit reduziert, und Helene mühte sich nach Kräften, es ihrem Mann an nichts mangeln zu lassen. Seine Arbeit ging ihm nach wie vor über alles, doch brachte er sich jetzt meist Unterlagen mit nach Hause, um sich nach einem gemeinsamen Abendessen damit an seinen PC in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen. Hin und wieder besuchte sie ihn dann dort. Natürlich fehlte ihr die fachliche Qualifikation, ihn bei seiner Arbeit zu unterstützen, doch sie interessierte sich, hörte aufmerksam zu und kommentierte kritisch.
Sie bereitete leichte, oft kalte, vegetarische Gerichte, und respektierte ohne Nachfrage seinen Wunsch, ab jetzt gänzlich auf Fisch und Eier zu verzichten, auch wenn sie fand, dass dies ein bedauerlicher Verlust an Variationsmöglichkeiten war. Immer seltener teilte er mit ihr den Genuss einer Flasche Wein, und Helene fragte sich, ob ihr Mann mit seiner mehr und mehr asketischen Lebensweise Dianes Gegenwart beschwören wollte. Doch sie sagte dazu nichts. Sie war froh, dass Dianes Verbleib schon lange nicht mehr Thema ihrer Gespräche war, und würde sich hüten, Diane oder ihre Lebensweisheiten wieder dazu zu machen.
Natürlich war es für Helene auch eine gewisse Herausforderung, die vegetarische Küche mit ungeahnten Genüssen zu bereichern. Kreationen wie Tempehschnitten unter Roter Johannisbeersauce mit Wildreis, oder warmen Ziegenkäse im Bärlauchbett mit Salat von Kapuzinerkresse, servierte man ja auch nicht überall. Doch es fehlte ihr eine spezielle Art von Sinnlichkeit, ja von Lebendigkeit, die sie beim Zubereiten von Fisch oder Fleisch immer empfand. Wenn im Laufe des Kochvorgangs sich die Konsistenz des Bratens veränderte, er langsam fester wurde, eine braun glänzende Kruste bekam, sein Saft sich mit Gewürzen und Gemüse mischte, und ein unvergleichlicher Duft entstand – das war immer wieder ein wunderbarer Schöpfungsakt, etwas, das all ihre Sinne ansprach. Die vegetarische Küche war ihr einfach zu kopflastig. Sie orientierte sich lieber mit Zunge, Augen, Nase und Ohren. Ja, auch das Geräusch eines scharfen Messers, das in zartes, innen rosa gebratenes Roastbeef schnitt, konnte Musik in ihren Ohren sein.
Nun gut, da Liebe bekanntlich durch den Magen geht, kochte sie eben zuhause vegetarisch, im Stillen hoffend, dass es sich vielleicht um nichts als eine Phase in Jans Leben handelte, seine Art von Midlifecrisis. Es gab Schlimmeres.
Umso größer war der Eifer, mit dem sich Helene in die Vorarbeiten für ihre nächste Arbeit am Theater stürzte, da sie hier ungebremst ihrer Kochleidenschaft frönen konnte. Diesmal führten sie ihre Studien zu Goethe und seiner Zeit, da die Saison Anfang September mit einer Dramatisierung der ›Wahlverwandtschaften‹ eröffnet werden sollte. Ihrer üblichen Vorgehensweise folgend, hatte sie erst einmal reichlich Material zusammengetragen: Kochbücher aus der Zeit um 1800, im Internet Biographien über das Leben des Dichters recherchiert, Bildbände über seine Weimarer Zeit angeschafft, ein Goethe-Kochbuch und natürlich die
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