Schatz, schmeckts dir nicht
war dies angeblich überlebensnotwendig, sodass Helene nur gute Miene zum bösen Spiel machen konnte, und allein reisen musste.
Deswegen stand sie jetzt ohne Jan mit ihrem Begrüßungscocktail im Abendwind auf der Schlossterrasse und fühlte sich ausgesprochen gut. Der Sitz der Grafen Warthenstein war nicht etwa zum Hotel umgebaut worden, sondern befand sich noch im ursprünglichen Zustand und wurde normalerweise auch nur von der Familie des Grafen bewohnt. Doch der Erhalt des Anwesens erforderte einen erheblichen finanziellen Aufwand, welchen der landwirtschaftliche Betrieb des gräflichen Gutes nicht allein decken konnte. So überließen Grafens unter dem Motto ›Rent a Castle‹ ihre historischen Gemäuer, die selbstverständlich ausreichend Gästezimmer und eine auf große Gesellschaften ausgelegte Küche beherbergten, dem gemeinen Volke, das es sich leisten konnte, hier Familienfeiern, Betriebsfeste, Weiterbildungen und Ähnliches auszurichten.
Die lukrativste Art der Schlossnutzung aber waren die von den Schlossherren selbst organisierten Wochenenden mit Bezeichnungen wie ›Leben wie die Fürsten – Festgelage auf Schloss Warthenstein im 17. Jahrhundert‹ oder aber ›Begegnung mit der Weißen Frau – Märchen und Sagen um Schloss Warthenstein‹ oder eben das Hubertuswochenende mit Unterbringung in den original ausgestatteten Zimmern, mit Verpflegung durch die Schlossküche im Rittersaal oder im Kaminzimmer.
Voller Skepsis und immer noch ärgerlich, dass Jan mal wieder in letzter Minute eine geplante gemeinsame Unternehmung hatte platzen lassen, war Helene am frühen Freitagabend auf dem Schloss am Rande des Frankenwaldes angekommen, ohne der reizvollen Umgebung viel Beachtung zu schenken. Da alle anderen Teilnehmer der auf zwölf Personen begrenzten Gruppe bereits eingetroffen waren und auf sie warteten, um gemeinsam den Begrüßungscocktail einzunehmen, führte man sie nur schnell auf ihr Zimmer, damit sie ihr Gepäck loswerden und sich kurz frisch machen konnte.
Misstrauisch beäugte Helene ihr historisches Gemach, das mit den schweren Samtvorhängen, den dicken Gobelins und Teppichen ein Paradies für die gemeine Hausstaubmilbe bot. Das antike, schmiedeeiserne Bettgestell mit dem bauschigen Federbett ließ erholsamen Schlaf auch nicht vermuten – es hing in der Mitte mächtig durch und quietschte bei jeder Bewegung. Aber an Schlaf war vorerst ohnehin nicht zu denken, da ›Abendessen und kleine Jagdplauderei am Kamin‹ auf dem Programm standen.
In dem winzigen Badezimmer mit dem Resopalcharme der 60er-Jahre, wusch sich Helene schnell Gesicht und Hände, schlüpfte in eine sandfarbene Leinenhose und eine weiße Bluse und legte sich locker ein reversloses, knittriges Leinenjackett um die Schultern. Eine schlichte, aber wertvolle Goldpanzerkette sowie weiße Herrenschnürschuhe vervollständigten ihr Outfit.
Nicht übertrieben elegant, aber durchaus von edler Lässigkeit, stellte Helene nach einem Blick in den leicht erblindeten, venezianischen Spiegel befriedigt fest. Glattes, aschblondes Haar umrahmte kinnlang ihr leicht gebräuntes, ovales Gesicht mit den hellen, blaugrauen Augen, die jetzt wohlgefällig über ihre schlanken 1,70 glitten. Ihre Laune besserte sich zusehends. Sie merkte, dass sie sehr hungrig war und neugierig auf die Kreationen aus der Schlossküche, und nicht weniger auf die anderen Teilnehmer des Hubertuswochenendes.
Die Neugier beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit, denn als Helene die Treppe zur Terrasse herunterschritt, wendeten sich ihr sämtliche Augenpaare zu. Sie ergriff die Gelegenheit, das Beste aus ihrem Auftritt zu machen. Mit einem strahlenden Lächeln schwebte sie auf den Grafen zu, der ihr schon ein Glas entgegenhielt und versuchte gleichzeitig auch allen anderen Gästen kurz in die Augen zu blicken, sodass ihr bei dieser schwierigen Übung leicht schwindelig wurde.
»Ich freue mich, dass jetzt alle Teilnehmer unseres Hubertuswochenendes hier wohlbehalten eingetroffen sind und begrüße Sie auf das Herzlichste auf Schloss Warthenstein. Zum Wohle!« Bei diesen Worten hob der Hausherr feierlich sein Glas, alle Anwesenden folgten seinem Beispiel und man nahm einen Schluck vom Begrüßungscocktail, der sich als Mischung aus einem kühlen Weißwein mit Schlehenlikör entpuppte – gar nicht übel. Der Graf fuhr fort mit einem Überblick über das Programm: Gleich anschließend gemeinsames Abendessen, das im Übrigen schon verführerische Düfte
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