Schatzfinder
Menschen, die so ein Pfarrer heute betreuen muss – ich meine, das ist doch verständlich, dass er nicht jeden persönlich kennt …«
»Stimmt«, raunte die erste Dame, »aber sonst war das wirklich sehr geschmackvoll, nicht?«
»Ja, das hat er sehr taktvoll gemacht, aber man weiß ja nie, ob sie um den Verstorbenen trauern oder um ihre Erwartungen, die der Verstorbene nicht mehr erfüllen kann.«
Jemand fragte, ob jeder Mensch ein guter Mensch ist, wenn er beerdigt wird.
Ein paar Meter weiter vorne im Trauerzug beugte sich ein junger Mann zu einer jungen Dame vor, die zwar rotgeweinte Augen hatte, aber gefasst wirkte. Er fragte sie leise: »Elektromeister? War er nicht Dachdecker gewesen?«
Sie nickte, zuckte mit den Schultern und bedeutete ihm mit einer kleinen, wegwerfenden Handbewegung: Ist doch egal …
DIE VERLEUMDUNG DES LEBENS
Helmut Schmidt und Daniela Katzenberger haben viel gemeinsam. Doch, wirklich. Zumindest aus meiner Perspektive. Denn beide kann ich aufrichtig dafür bewundern, dass sie ohne Schnörkel sagen, was sie denken. Der eine denkt dabei vorzugsweise einen langen Lungenzug lang nach. Die andere braucht dazu nicht einmal Luft zu holen.
Und erfolgreich sind beide. Und wie! Helmut Schmidt sitzt ganz offensichtlich auf dem unsichtbaren Thron des weisesten Deutschen, der größten Autorität unseres Landes in diesen Tagen. Ein wahrhaft bedeutender Mann: Er bezwang als Senator in Hamburg die 62er-Sturmflut, war einer der besten Bundeskanzler, seit es Bundeskanzler gibt, und ist seit Jahrzehnten Mitherausgeber einer der angesehensten Zeitungen des Landes. Er war fast 60 Jahre lang glücklich verheiratet, ist wieder verliebt, zählt einige der mächtigsten und klügsten Männer der Welt zu seinen Freunden. Er malt, spielte Klavier, so lange er konnte, nahm sogar eigene Schallplatten auf. Er ist sechsfacher Ehrenbürger, dreißigfacher Ehrendoktor an den bedeutendsten Hochschulen der Welt, erhielt nicht nur unzählige Preise, sondern ist selbst Namensgeber des Helmut-Schmidt-Preises für Deutsch-Amerikanische Wirtschaftsgeschichte. Erfolgreicher geht es nicht.
Glücklich ist, wer vergisst, dass er nicht mehr zu retten ist.
Und Daniela Katzenberger? Die hat maximal Spaß, wird darüber Millionärin, und keiner weiß warum. Glücklich ist, wer vergisst, dass er nicht mehr zu retten ist. Von Beruf Reality-Show-Teilnehmerin, machte sie nicht Kettenrauchen zu ihrem Markenzeichen wie der Herr Schmidt, sondern ihre abrasierten, an zu hoher Position auftätowierten Augenbrauen, die sie immer aussehen lassen, als sei sie selbst darüber erstaunt, dass sie gleichzeitig angriffslustig, naiv, den Tränen nah und zu allem bereit aussehenkann. Sie taucht regelmäßig in Artikeln mit prallen Fotos und kleinen Texten in der Boulevardpresse auf, ist fast täglich irgendwo im Fernsehen zu sehen, spricht fließend Denglisch und Pfälzisch, schreibt mit 24 Jahren ihre erste Biografie, mit der sie Bestsellerplatz 1 stürmt, bespaßt über eine Million Facebook-Fans im Internet und sorgt überall, wo sie auftaucht, wasserstoffblond für gute Laune. Bald wird sie uns erklären, warum Frauen mit geschlossenem Mund keine Wimperntusche auftragen können.
Daniela Katzenberger ist womöglich noch gar nicht am Ende ihrer Karriere angelangt. Bei ihr weiß man nicht, wozu sie noch fähig ist. Es kann morgen vorbei sein, und keiner erinnert sich mehr an sie, oder aber sie ulknudelt sich durch die Medien bis ins hohe Alter. Es ist alles drin. Aber wahrscheinlich wird es auch bei ihr zum Schluss naheliegend sein zu sagen: Erfolgreicher geht es nicht.
Beide jedenfalls werden definitiv bei ihrem Begräbnis, wann immer das sein wird, keine mittelmäßige Trauerfeier bekommen. Es wird vermutlich nicht Jahresdurchschnittstemperatur herrschen, der Blumenschmuck wird nicht mittelmäßig teuer sein, die Trauerlieder werden nicht die üblichen sein, der Pfarrer wird die Trauerpredigt nicht verwechseln. Die Nachrufe auf sie, egal ob öffentlich oder im privaten Kreise, werden ganz sicher nicht sein: langweilig, mittelmäßig, durchschnittlich, gewöhnlich, normal. Keiner wird den Eindruck haben, dass die beiden ihr Leben vergeudet haben; beide wird man bewundern dafür, dass sie grandios viel herausgeholt haben aus der Zeit, die sie auf diesem Planeten geschenkt bekommen hatten. Beide sind auf ihre Weise der Beweis für meine These, dass es ein Leben vor dem Tod gibt, dass sie die eigenen Träume gelebt, den Schatz gefunden
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